Die meisten Hausärzte haben in ihrer Weiterbildung auch im Bereich der Intensivmedizin gearbeitet. Sie wissen, wie viele Parameter alleine für die Einstellung eines Beatmungsgeräts berücksichtigt werden müssen, wie aufwendig die meist nötige Sedierung der Patienten sein kann, wie viele Tröpfchen beim Absaugen von Sekret aus dem Tubus entweichen und welche Herausforderung alleine die Umlagerung eines beatmeten und voll verkabelten Patienten ist.
Auszüge aus den aktuell in Zusammenarbeit mehrerer Fachgesellschaften unter Federführung von Prof. Stefan Kluge, Hamburg-Eppendorf, veröffentlichten “S1-Empfehlungen zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit COVID-19” (AWMF-Reg.-Nr.: 113/001) sollen einen kleinen Einblick geben, um wie viel komplizierter die Beatmung bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 ist.
Intensiv-Leitlinie zu Covid-19
Kriterien für die Aufnahme eines Patienten mit schwer verlaufender Covid-19 auf eine Intensivstation sind in der Regel eine Dyspnoe mit einer Atemfrequenz > 30/Minute und die resultierende Hypoxämie. Neben dem Acute Respiratory Distress Syndrome (ARDS) drohen unter anderem auch Rhythmusstörungen, Myokardschäden und akutes Nierenversagen.
Ziel der Beatmung ist in der Regel eine Sauerstoffsättigung von mindestens 90 Prozent. High-Flow-Sauerstofftherapie per Brille oder nichtinvasive Beatmung über eine Maske sollte wegen der starken Aerosolbildung zurückhaltend eingesetzt werden.
Bei schwerer Hypoxämie (Oxygenierungsquotient pAO₂/FiO₂ ≤ 200 mmHg) sollte invasiv beatmet werden, unter einem Quotienten von 150 mmHg konsequent in Bauchlage (Intervalle von mindestens 16 Stunden).
Der zu wählende positive endexspiratorische Druck (PEEP) wird anhand der Tabelle des ARDS-Network ermittelt. Eine extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO) ist Ultima Ratio bei Quotienten unter 80 bis 60 mmHg, wenn alle anderen Maßnahmen ausgeschöpft sind.
Große Erfahrung erfordert das Intubieren von Covid-19-Patienten. Vorgeschlagen wird in der Leitlinie, wenn möglich ohne Zwischenbeatmung auszukommen (Rapid Sequence Induction, RSI), um die Aerosolbildung zu minimieren.
Priorisierung und Menschenwürde
Triage bedeutet verkürzt, dass man Patienten in drei Gruppen einteilt, wenn die Behandlungsressourcen nicht für alle reichen: braucht keine Hilfe, hat auch mit Behandlung kaum Überlebenschancen, profitiert am ehesten von medizinischen Maßnahmen.
Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hat Ende März „Klinisch-ethischen Empfehlungen“ zur „Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie“ herausgegeben. Am 17. April wurden diese Empfehlungen aktualisiert (Version 2).
In dem aktuellen DIVI-Papier heißt es, dass Grunderkrankungen und Behinderungen kein legitimes Kriterium für Triage-Entscheidungen seien. Zudem wird die Prüfung des Patientenwillens vor der Aufnahme auf die Intensivstation stärker hervorgehoben.
Die Priorisierung von Patienten soll sich am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren. Dabei werden – wenn nicht anders vermeidbar – diejenigen Patienten nicht intensivmedizinisch behandelt, bei denen nur eine sehr geringe Aussicht besteht zu überleben.
Vorrangig werden demgegenüber diejenigen Patienten intensivmedizinisch behandelt, die durch diese Maßnahmen eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit haben. Die Einschätzung der klinischen Erfolgsaussicht muss für jeden einzelnen Patienten so sorgfältig wie möglich erfolgen:
- Die Priorisierung soll immer alle Patienten einschließen, die der Intensivbehandlung bedürfen, unabhängig davon, wo sie gerade versorgt werden (Allgemeinstation, Notaufnahme/Intermediate-Care Station oder Intensivstation).
- Eine Priorisierung ist aufgrund des Gleichheitsgebots nicht vertretbar nur innerhalb der Gruppe der COVID-19-Erkrankten und nicht zulässig aufgrund des kalendarischen Alters, aufgrund sozialer Merkmale oder aufgrund bestimmter Grunderkrankungen oder Behinderungen.
Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfen Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden. Darauf hatte schon der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier in einem Interview (SZ vom 2. April 2020, Seite 2) hingewiesen.
Um die Entscheidungen über eine Priorisierung auf der bestmöglichen verfügbaren Informationsgrundlage treffen zu können, müssen u.a. Informationen zum aktuellen klinischen Zustand des Patienten und zum Patientenwillen (aktuell/vorausverfügt/zuvor mündlich geäußert/mutmaßlich) vorliegen.
Das Einholen einer Patientenverfügung zu COVID-19 ist aber nicht einfach. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz weist darauf hin, dass auch für COVID-19 auf allgemeine Formulierungen möglichst verzichtet werden soll. Wichtig sei vielmehr, die Situationen, für die die Verfügung gelten soll, möglichst präzise zu beschreiben. Ein Textbaustein wie: „Alle lebenserhaltenden Maßnahmen sollen unterlassen werden.“ ist wenig hilfreich und sollte immer vermieden werden.
Palliativmedizinische Versorgung
Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin hat eine “Handlungsempfehlung zur Therapie von Patient*innern mit COVID-19 aus palliativmedizinischer Perspektive” (AWMF-Reg.-Nr.: 128/002) herausgegeben. Im ersten Teil dieser Handreichung werden Grundsätze für die stationäre Behandlung Sterbender mit den Leitsymptomen Luftnot und Angst formuliert.
Danach muss zuerst immer geklärt und dokumentiert sein, ob Reanimation, Intubation, Intensivstation und nichtinvasive Beatmung/High-Flow-Sauerstofftherapie infrage kommen, etwa anhand von Vorausverfügungen. Vor jeder Therapieeskalation ist zu prüfen, ob die Maßnahme geeignet ist, das Therapieziel zu erreichen. Wenn die Antwort “nein” heißt, ist die Behandlung nicht indiziert!
Medikamentöse Therapie bei Atemnot
Ist Atemnot bei Patienten mit Covid-19 nicht anderweitig beherrschbar, werden orale oder parenterale Opioide verabreicht. Dabei ist zwischen opioid-naiven und opioid-vorbehandelten Patienten zu unterscheiden:
- Opioid-naiv: Dauermedikation mit retardiertem Morphin (10–0–10 mg) oder Tropfen (2–5 mg alle 4 Stunden) sowie zusätzlich bei Bedarf Tropfen (3–5 mg alle 2 Stunden). Andere Opioide in Äquivalenzdosen.
- Opioid-vorbehandelt: Es wird eine Dosiserhöhung der Opioide um 20 Prozent empfohlen. Die Dosis der Bedarfsmedikation muss ebenfalls angepasst werden (1/10 bis 1/6 der Tagesdosis).
Bei therapierefraktärer Dyspnoe oder wenn eine orale Gabe nicht möglich ist, muss parenteral (s.c. oder i.v.) behandelt werden, wegen des milderen Nebenwirkungsprofils ist die s.c.-Gabe zu priorisieren. Morphinsulfat-Perfusoren sollten bei progredientem respiratorischen Versagen und Therapielimitationen hinsichtlich einer Intubation frühzeitig angesetzt werden. Dauermedikation: Morphin kontinuierlich 5–10 mg/24 Stunden; bei Bedarf: Morphin s.c. 1–3 mg alle 2 Stunden. Andere Opioide in Äquivalenzdosen.
Behandlung bei Angst und Unruhe
Angst und Unruhe müssen ebenfalls behandelt werden. Hierzu eignet sich Lorazepam (1 mg s.l./p.o. bei Bedarf alle 4 Stunden); alternativ (wenn Lorazepam nicht ausreichend wirksam ist): Midazolam (2,5–5 mg s.c. alle 4 Stunden).
Sprechen Angst und Unruhe darauf nicht an bzw. ist eine orale Gabe nicht möglich, muss parenteral behandelt werden: Midazolam kontinuierlich (Perfusor) 5–10 mg/24 Stunden. Midazolam-Perfusoren sollten in Kombination mit Morphin früh eingesetzt werden, wenn Therapielimitationen hinsichtlich einer Intubation bestehen und sich die Unruhe verschlimmert.
Aus der Sicht eines Kollegen
Dr. Marc Hanefeld bezeichnet sich selbst als “Konvertit”, weil er im “früheren Leben” Anästhesist und Intensivmediziner war und heute als Facharzt für Allgemeinmedizin niedergelassen ist. In einem Blog-Beitrag “Alles besser mit mehr Beatmungs-Geräten?” warnt er vor der Illusion, dass Covid-19 alleine durch Beschaffung von Beatmungsgeräten in den Griff zu bekommen sei.
Er beschreibt aus eigener Erfahrung als Intensivmediziner, wie komplex künstliche Beatmung ist und weist auch darauf hin, dass nach mehreren Tagen Beatmung das zeitraubende Entwöhnen (Weaning) folgt, das nicht weniger personalintensiv ist.
Hanefelds Schlussfolgerung: Mit mehr Beatmungsmaschinen ist es nicht getan. “Maschinen sind eine Grundvoraussetzung, ohne die gar nichts geht. Die wahren Fortschritte wird man aber nur erzielen, indem diese Maschinen – und alles drumherum! – von Menschen eingesetzt werden, die sich extrem gut mit dem Thema auskennen.”
Und weiter: “Ohne Personal mit Expertise haben die Geräte nicht einmal den Wert des Papiers, auf dem ihre Rechnungen abgedruckt sind. Und diese Expertise benötigt Jahre, wenn man sie aufbauen möchte.”
Schließlich wünscht er sich, dass wir nach Überwinden der Corona-Krise “intensiv darüber sprechen, ob Krankenbehandlung wirklich etwas ist, was über Investment-Fonds und sonstige Investitions-Mechanismen Geld-Abschöpfung aus dem Gesundheitswesen ermöglichen sollte.”