Der FallGenau hinschauen bei Multimedikation!

Die Behandlung von multimorbiden Patientinnen und Patienten ist herausfordernd – das zeigt auch der Fall von "Frau J." Wie gehen Sie am besten vor?

Multimorbidität und Multimedikation stellen Hausarztpraxen vor große Herausforderungen.

Das sagt die Allgemeinmedizin

von Prof. Dr. med. Christiane Muth, MPH, Leiterin der Allgemein- und Familienmedizin, Universität Bielefeld

Frau J. ist eine hochkomplexe Patientin mit Multimorbidität und Multimedikation. Ihre weitere Versorgung profitiert von einem systematischen Vorgehen nach den Ariadne-Prinzipien (siehe auch Buchtipp Kasten unten):

  1. umfassendes Assessment inklusive Interaktionsprüfung,
  2. Patientenpräferenzen und Priorisierung,
  3.  individualisiertes Management zur Erreichung realistischer Therapieziele und Follow-up.

Assessment: Frau J. erhielt Verordnungen von diversen Hausärzten und Fachspezialisten, die sie oft wechselte. Im Brown-Bag-Review werden zusätzlich OTC-Medikamente identifiziert (Pantoprazol, Iberogast). Die Patientin wirkt ängstlich, kann zur Anamnese wenig beitragen und ist zeitlich und örtlich desorientiert.

In der körperlichen Untersuchung zeigen sich Hämatome unterschiedlichen Alters an Knien, rechter Schulter und rechter Hüfte; knöcherne Verletzungen, Stauungszeichen oder periphere Ödeme sind nicht vorhanden. Die Patientin ist in gutem Pflegezustand. Aktuell liegt der Blutdruck bei 95/55 mmHg, der Blutzucker bei 90 mg/dl.

Das Labor zeigt folgende Befunde: HbA1c 5,8 %, eGFR 36 ml/min, Natrium und Kalium im unteren Normbereich, Blutbild und weitere Parameter zu Leberstoffwechsel normal. Vorbefunde fehlen, die Betreuerin will weitere Arztbriefe einholen.

Priorisierung: Im ersten Gespräch mit Patientin und Betreuerin bleiben viele Fragen offen, im Vordergrund stehen die wiederholten Stürze.

Individualisiertes Management: Multiple Sturzursachen kommen in Frage: 1. zu straffe Blutzuckereinstellung bei Insulin-Therapie und 2. blutdrucksenkende Mehrfach-Therapie (Bisoprolol, Torasemid). Zudem können blutdrucksenkende durch 3. orthostatische und sedierende Effekte von Psychopharmaka (Lorazepam, Aripiprazol) verstärkt werden.

In Kooperation mit der Apotheke sollen bei Frau J. hinsichtlich Stürze und Verwirrtheit 4. anticholinerge Belastung geprüft werden, sowie Arzneimittel-Interaktionen und das Vorliegen von Verordnungskaskaden. Wegen langfristiger Einnahme wird eine schrittweise Optimierung der gesamten Medikation mit Überwachung durch die Einrichtung vereinbart, beginnend mit der antihypertensiven und antidiabetischen Therapie.

Das sagt der Spezialist

von Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Facharzt für klinische Pharmakologie, Goethe-Universität Frankfurt

Bei Multimedikation lassen sich arzneimittelbezogene Symptome aus einem “Grundrauschen” von multiplen Beschwerden schwer einer bestimmten Medikation oder einem bestimmten pharmakologischen Mechanismus zuordnen: Ist es eine pharmakokinetische oder pharmakodynamische Interaktion, liegt eine Kumulation wegen eingeschränkter Nieren- oder Leberfunktion vor oder eine bisher nicht aufgetretene Idiosynkrasie?

Der Aufdeckung von Verordnungskaskaden sowie Potenzierung von Nebenwirkungen, die oft erst bei Kombination die Wahrnehmungsschwelle erreichen, kommt hier besondere Bedeutung zu.

Viele Wirkstoffe führen neben ihren Haupteffekten zu anticholinergen (parasympathikolytischen) Begleiteffekten. Vor allem Spasmolytika (wie Butylscopolamin und Oxybutynin) haben anticholinerge Effekte, von Mundtrockenheit bis hin zu Symptomen wie Verwirrtheit, Schwindel und Sehstörung. Meistens treten diese Erscheinungen erst bei gemeinsamer Gabe mehrerer anticholinerger Arzneimittel auf (anticholinerge Last).

So können zum Beispiel eine Mydriasis, trockene Augen sowie eine Akkommodationsstörung den Visus beeinträchtigen und so zu Stürzen führen, ebenso zentrale anticholinerge Effekte (Sedierung). Es bietet sich bei vorhandener Indikationsstellung an, auf Wirkstoffe mit niedriger anticholinerger Potenz auszuweichen, zum Beispiel Solifenacin statt Tolterodin.

Eine Verordnungskaskade entsteht, wenn eine spezifische Nebenwirkung eines Arzneimittels als unabhängiges Symptom verkannt und durch die Verschreibung eines weiteren Medikaments kupiert wird, welches unter Umständen wiederum eine weitere Nebenwirkung auslöst.

Bekannt ist etwa, dass die Verschreibung von antipsychotischen Wirkstoffen (zum Beispiel Aripiprazol) wegen der als Nebenwirkung auftretenden Parkinson-Symptome eine Folgeverschreibung eines Dopaminagonisten wie Pramipexol induziert. Bei Frau J. mag eine durch das Spasmolytikum und Aripiprazol hervorgerufene Unruhe und Schlafstörung die Verschreibung von Lorazepam gefördert haben.

Manche Nebenwirkungen werden durch OTC-Präparate (Magen-Darm-Beschwerden bei hoher Tablettenlast → PPI, pflanzliche Mittel) behandelt – ein Umstand, der erst durch eine sorgfältige Arzneimittelanamnese erfasst wird.

Alle verordneten Medikamente sind grundsätzlich für eine oder mehrere Indikationen aus dem Diagnosespektrum geeignet. Jedoch muss eine sehr straffe “Einstellung” von Blutdruck oder Blutzucker, die sich primär an der Erfüllung von leitliniengebundenen Vorgaben orientiert, bei multimorbiden Patienten kritisch überprüft werden. Bei der hier vorgestellten Patientin würden Zielwerte von 130/80 mmHg bzw. 6,5 – 8,5 % HbA1c ausreichen.

Das sagt die Evidenzbasierte Medizin

Multimorbidität und Multimedikation stellen die Hausarztpraxen vor große Herausforderungen. Ein Handlungsleitfaden für die Praxis gibt die hausärztliche S3- Leitlinie “Multimedikation”, deren Empfehlungen auch die Ariadne-Prinzipien berücksichtigen.

Demnach gehören generell alle Menschen (und zwar unabhängig vom Alter), die fünf oder mehr Medikamente dauerhaft einnehmen (Multimedikation) bzw. an drei oder mehr chronischen Erkrankungen leiden (Multimorbidität) zu den Risikogruppen, für die eine regelmäßige Überprüfung ihrer Medikation wichtig ist (mindestens einmal jährlich).

Bei Patienten mit Multimedikation und Multimorbidität sowie zusätzlichen Risiken oder Ereignissen (zum Beispiel Stürze, Krankenhausaufenthalt) sollte eine anlassbezogene Medikationsüberprüfung (mit Bestandsaufnahme und Bewertung der Medikation) durchgeführt werden.

Zudem empfiehlt die Leitlinie den Praxen festzulegen, wie Patienten mit diesen Kriterien für eine Medikationsprüfung erkannt werden und wo dokumentiert wird, wann die nächste Medikationsüberprüfung spätestens stattfinden soll.

Mittelpunkt ist die gemeinsame Vereinbarung von realistischen Therapiezielen zwischen Ärzten und Patienten, die durch eine auf die Patienten individuell zugeschnittene Medikation erreicht werden sollen. Für das praktische Vorgehen gelten die folgenden allgemeinen Empfehlungen.

Um Sicherheit und Qualität der Arzneitherapie zu optimieren und zu gewährleisten, sei der gesamte Verordnungsprozess zu betrachten. Die Leitlinie teilt diesen Prozess in mehrere Schritte ein, für die ein zyklischer Durchlauf gilt. Dabei erfolgen sowohl die Verordnung als auch das Absetzen von Medikamenten nach dem gleichen strukturierten Prozess:

  1. Bestandsaufnahme und Bewertung
  2. Abstimmung mit dem Patienten
  3. Verordnungsvorschlag und Kommunikation
  4. Arzneimittelabgabe
  5. Arzneimittelanwendung und Selbstmanagement
  6. Monitoring/Follow-up

Zu jedem Schritt gibt die Leitlinie auch praktische Tipps und Informationen (zum Beispiel über Hilfsmittel oder digitale Tools), die die Umsetzung erleichtern können.

Weitere Empfehlungen betreffen auch das Schnittstellenmanagement bei Krankenhausaufnahme und -entlassung sowie die Kooperation mit Apotheken und Pflegenden.

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