Praxis WissenDrei Fehler pro 100 Konsultationen

Nur wenige Fehler schädigen tatsächlich einen Patienten. Statistisch geschätzt muss ein Hausarzt aber etwa einmal pro Monat damit rechnen. Oft fängt es schon bei kleinen Abweichungenvon der Routine an.

Das Fehlerrisiko in der medizinischen Versorgung muss man einschätzen können, um ein daran angepasstes Fehlermanagement einleiten zu können. Es ist aber ausgesprochen schwer, hier Evidenz zu gewinnen. Zum einen müssen die Begriffe wie Fehler oder unerwünschtes Ereignisklar definiert sein, zum anderen müssen angemessene Studiendesigns und Methoden, derartige Ereignisse zu identifizieren, entwickelt werden. Wie schwierig das ist, zeigt eine frühere vergleichende Studie, in der

  • Fehler, die dem Praxisteam aufgefallen waren,
  • kritische Ereignisse, die sich aus der Patientendokumentation identifizieren ließen, sowie
  • Fehler, die Patienten aufgefallen waren,

verglichen wurden: Die Übereinstimmung war fast null. Im Fehlerberichtssystem jeder-fehler-zaehlt.de verzichten wir auf jede quantitative Abschätzung, denn die Berichte werden subjektiv geliefert, und sie geben uns wichtige Hinweise auf Situationen, wo sich offenbar eine Problematik “klumpt”.

Für den Hausarzt ist es dennoch wichtig, aus empirisch begründeten Studien einen Anhaltswert zu gewinnen, mit welchem Risiko er rechnen muss. Bisher hatten wir stets einen Review von Sandars und Esmail aus dem Jahr 2003 verwendet, der kritische Ereignisse mit etwa 0,4 Prozent aller Konsultationen angab.

Inzwischen wissen wir auch, dass kritische Ereignisse mit Schadenspotential im Krankenhaus zum Beispiel in fast zehn Prozent aller Aufenthalte vorkommen.

Schaden nur in vier Prozent der Ereignisse

Nun hat eine hochrangige Autorengruppe um Prof. Aziz Sheikh (Edinburgh) im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen groß angelegten Review zur Häufigkeit von kritischen Ereignissen/Fehlern in der Primärversorgung publiziert [1]. Nicht weniger als 61.000 potentiell wichtige Originalarbeiten wurden recherchiert, und unter ihnen neun systematische Reviews und 100 Primärstudien mit quantitativen Angaben selektiert. Die Synthese war angesichts unterschiedlicher Begriffe und Methoden nicht einfach. Die am häufigsten benutzte Methode der Identifikation war die Analyse von Patientendokumentationen (chart review).

Das Ergebnis: Es wurde eine Rate von unter einem bis 24 Fehlern pro 100 Konsultationen/Patientenfällen festgestellt. Der Median, der wahrscheinlich dem echten Wert am nächsten kommt, liegt bei drei kritischen Ereignissen pro 100 Konsultationen. Nicht alle dieser Ereignisse hatten den Patienten erreicht und zu einem potentiellen Schaden geführt. In einer gesonderten Metaanalyse wurde ermittelt, dass nur etwa vier Prozent dieser Ereignisse (also 120 auf 100.000 Konsultationen oder 0,12 Prozent) eine erhebliche Patientenschädigung verursacht hatten, bis hin zum tödlichen Ausgang. Die beiden wichtigsten Fehlerbereiche, die zu Patientenschädigungen führten, waren Diagnostik und Medikamentenverordnung.

Auf der einen Seite kann dieses Ergebnis beruhigen, wenn man es mit Ergebnissen aus der stationären Versorgung vergleicht: Dort erlebt wie erwähnt etwa jeder zehnte Patient während seines Aufenthaltes ein kritisches Ereignis mit potentieller Schädigung. Auf der anderen Seite sind die Kontaktfrequenzen in der ambulanten Primärversorgung außerordentlich hoch.

Geht man davon aus, dass ein Hausarzt bis zu 50 Patientenkonsultationen pro Tag hat, bedeutet dies, dass fast jeden Tag ein signifikantes Ereignis vorkommt. Dieser Arzt hat im Jahr mehr als 10.000 Konsultationen erlebt, also fast monatlich einen Fehler mit Patientenschädigung. In Deutschland, wo Patienten bekanntlich besonders häufig zum (Haus-)Arzt gehen, kann man von 500 Millionen Patientenkontakten in der Primärversorgung ausgehen. Dies würde folglich bedeuten, dass etwa 600.000 Patienten pro Jahr von einem Schaden betroffen wären.

Die Hausarztpraxis ist zwar ein Niedrigrisikobereich mit hoher Betreuungsintensität. Wir glauben dennoch, dass der Wert von drei Fehlern pro 100 Patientenkontakte gut geschätzt ist, wie oft tatsächlich zu vermeidende Ereignisse auftreten und womit sich Hausärzte und ihre Teams beim Fehler- und Risikomanagement in der Praxis auseinandersetzen müssen.

Wir wissen, dass diese Rate sinken muss. Denn es ist dem kritischen Ereignis nicht von vornherein anzusehen, welches Schadenspotential es hat: Auf jeder-fehler-zaehlt.de sehen wir häufig in den berichteten Fällen, dass auch kleine Routineabweichungen Konsequenzen haben können. Aber indem wir Hausärzte die Praxisroutinen verbessern und aus kritischen Ereignissen lernen, können wir die Rate kritischer Ereignisse und damit auch die Rate potentieller Patientenschädigungen senken.

Fehlerbericht #874

Der folgende Bericht schildert auf eine ironische, eher beiläufige Art, wie Routinen versagen können und der Patient zumindest kräftig Blut verliert. Wir möchten den Fallbericht weniger als empirischen Beleg des im Aufsatz Beschriebenen, denn als Illustration zum Nachdenken verstanden wissen. Mit gleichartigen drastischen Vorstellungen gehen manche Patienten aber auch zu ernsteren Eingriffen…

Was ist passiert?

Patient meldet sich an der Anmeldung: “Frau Doktor hat mich zum Aderlass einbestellt.”

Parallel fragt die neue Laborkraft bei mir, wie wir genau den Aderlass durchführen.

Ich “finde” anschließend den Patienten beim Aderlass, als ich ihm ein Rezept aushändigen will. Einbestellt hatte ich ihn zu einer Routine-blutentnahme!

Was war das Ergebnis?

Der Patient hat unnötigerweise 60 ml Blut verloren. Die Praxis hat Raum-, Personal- und Materialressourcen eingebüßt.

Mögliche Gründe, die zu dem Ereignis geführt haben können?

  • Flapsige Redensart des Patienten.
  • Anmeldung glaubt Patient, ohne Termin/Aufgabenliste zu kontrollieren.
  • Neue Kraft kennt die Patienten nicht.
  • Name des Patienten zum Aderlass wurde nicht kommuniziert (aktuell eine Person bei uns, mit Termin am selben Tag).
  • Kein Zeitdruck!

Welche Maßnahmen wurden aufgrund dieses Ereignisses getroffen o. planen Sie zu ergreifen?

Namensnennung, vor Therapiestart Ok einholen: “Darf ich jetzt den Aderlass bei XY beginnen?”

Literatur: 1. Panesar SS, et al. How safe is primary care? A systematic review. BMJ Qual Saf 2016;25:544–553. Der Artikel ist im Netz frei zugänglich unter qualitysafety.bmj.com/content/25/7/544.full

Übrigens:

www.jeder-fehler-zaehlt.de ist übrigens im Augenblick dabei, die Nutzung eines Fehlerberichts- und Lernsystems nachhaltig zu stärken. Zukünftig sollen Fehlerberichts- und Lernsysteme auch in der ambulanten Versorgung obligat werden, so will es der Gemeinsame Bundesausschuss. Wir haben einen Antrag an den Innovationsfonds gestellt (der in der ersten Runde bereits positiv beurteilt wurde), damit wir ein für die hausärztliche Versorgung praktikables Modell mit Handlungsempfehlungen entwickeln können. Sie als Nutzer werden an vorderster Front beteiligt, damit ein prakti-kables Modell und nicht weiterer bürokratischer Ballast entsteht.

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