DEGAM-LeitlinieVon der Schwindelart zur Diagnose: Leitfaden für die Praxis

Schwindel gehört zu den 20 häufigsten Beratungsanlässen in der Hausarztpraxis (Platz 13 in der CONTENT- Studie). Die Bandbreite möglicher Schwindelursachen ist naturgemäß im unselektierten hausärztlichen Patientengut sehr groß. Die DEGAM-Leitlinie "Akuter Schwindel in der Hausarztpraxis" gibt Tipps für die Abklärung.

Schwindel entsteht immer dann, wenn die Informationen der Sinnesorgane und Rezeptoren über die aktuelle Lage oder Bewegung des Körpers im Raum an das Gehirn nicht übereinstimmen. Aber auch das Gehirn selbst kann zur Ursache von Schwindel werden, sowohl durch hirnorganische Prozesse als auch psychogen. Als Sonderform des Schwindels gilt das unmittelbar vor einer Synkope einsetzende Gefühl von Unsicherheit im Raum.

Welche Schwindelart liegt vor?

Schwindel lässt sich kategorisieren nach Entstehungsort, Ursache, Dauer und Art des Schwindelgefühls. In der Hausarztpraxis orientiert man sich primär meistens an der Art des Schwindels:

  • Drehschwindel (wie im Karussel),
  • Gangunsicherheit (mit klarem Kopf),
  • Schwankschwindel (ohne klaren Kopf)/(Prä-)Synkope,
  • Benommenheit/Unsicherheit im Raum (ohne klaren Kopf).

Cave: Die Patienten bezeichnen ihre Beschwerden oft nicht als Schwindel (“der Kreislauf spielt verrückt”, “mir ist komisch”, “alles dreht sich bzw. kippt weg”).

Drehschwindel hält je nach Ursache Sekunden bis Wochen an. Ab einer Dauer von mehreren Minuten geht er oft mit Erbrechen einher. Eine Form des Drehschwindels ist der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel (Benign Paroxysmal Positional Vertigo = BPPV, durch “Kanalolithen” verursacht), der Sekunden bis maximal fünf Minuten anhält und nur selten zu Erbrechen führt.

Bei Gangunsicherheit wird das Schwindelgefühl nur durch Gehen (selten durch Radfahren) ausgelöst und sistiert, sobald die Patienten stehen bleiben oder sich hinsetzen. Ursache ist fast immer eine Polyneuropathie mit Sensibilitätsstörungen (“ins Leere treten”).

Schwankschwindel (manchmal als Benommenheit empfunden) mit dem Gefühl einer drohenden Ohnmacht entsteht oft beim Aufrichten (gestörte Orthostaseregulation), beim Wenden des Kopfs nach hinten oder zur Seite (Karotis-Sinus-Syndrom) oder bei Arbeiten mit über dem Kopf gehaltenen Armen (Subclavian-Steal-Syndrom). Da ein BPPV auch nach Aufrichten aus dem Liegen auftreten kann, muss er vom orthostasebedingten Schwindel abgegrenzt werden. Ab einer Dauer von mehreren Sekunden ist Schwindel sehr wahrscheinlich nicht durch Orthostase ausgelöst. Synkopen als Folge bradykarder Rhythmusstörungen kündigen sich fast nie durch Schwarzwerden vor den Augen an und die Patienten berichten, dass sie plötzlich auf dem Boden lagen.

Benommenheit/Unsicherheit im Raum mit dem Gefühl von Nachschwankungen oder Wegsinken sind meistens nicht von (anhaltendem) Drehgefühl begleitet. Dieser Schwindel dauert Minuten bis Tage, kann unterbrochen werden und in bestimmten Auslösesituationen erneut beginnen. Kopfbewegungen und Lageveränderungen können verstärkend wirken, Erbrechen/Übelkeit sind selten (außer bei Migräne und zerebrovaskulären Erkrankungen). Mögliche Auslöser: Arrhythmien sowie Hypo-/Hypertonie.

Ist Schwindel einer der vier Arten zugeordnet, lässt sich anhand von Dauer, modellierenden Faktoren und Zusatzsymptomen gemäß der Tabelle eine wahrscheinliche Diagnose formulieren, die mit Untersuchungen in der Hausarztpraxis oder – eher selten – nach Überweisung an Spezialisten verifiziert werden kann.

Daneben gibt es eine Reihe weiterer Hinweise, die bei der Abklärung helfen:

  • Fast alle Erkrankungen, die als Schwindelursache infrage kommen, haben Zusatzsymptome; Ausnahmen: BPPV und bestimmte Formen der Kleinhirninfarkte.
  • Sehr heftiger Schwindel (meist mit Erbrechen) ist eher vestibulär als zentral bedingt.
  • Oszillopsie (Wackeln wie bei einer Videoaufnahme im Gehen) spricht für vestibuläre Ursache.
  • Schwarzwerden vor Augen: Synkopen/Orthostase; bei Anstrengung auftretend: obstruktive Herzerkrankungen; Armheben als Trigger: Subclavian-Steal Syndrom; Kopfdrehung als Auslöser: Karotis-Sinus-Syndrom oder zervikogener Schwindel.
  • Blumige, ängstliche Schilderung und/oder schwer einzuordnende Beschreibungen, Nennung weiterer nicht spezifischer Körperbeschwerden und Ängste: Schwindel ist eher psychogen.

Laut DEGAM sind in der Hausarztpraxis die häufigsten Diagnosen bei akutem Schwindel: psychogener Schwindel, benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel, “Schwindel im Alter”/komplexer Schwindel, “zervikogener Schwindel”, Orthostase sowie unerwünschte Medikamentenwirkungen und “neue Brille”.

Weitere bei Schwindel häufige Diagnosen sind Herzrhythmusstörungen, M. Menière, Neuritis vestibularis, Polyneuropathie, vestibuläre Migräne sowie zerebrale Durchblutungsstörungen. Eine Sonderform des Schwindels ist die leicht abgrenzbare Reisekrankheit.

Wichtig: Bei einem beträchtlichen Teil der Patienten mit Schwindel (je nach Studie zwischen 40 und 80 Prozent) lässt sich auch durch erweiterte Diagnostik bei Spezialisten keine klare Ursache für das Symptom eruieren. Da auch dieser Schwindel oft spontan aufhört, kann – nach Ausschluss gefährlicher abwendbarer Verläufe (Red Flags, siehe unten) – eine Strategie des abwartenden Offenhaltens (Watchful Waiting) sinnvoll sein, rät die DEGAM.

Körperliche Untersuchung

Bei Schwindel sollte man ausführlich über Art und Ursache der Beschwerden aufklären, weil die Patienten oft stark beunruhigt sind. Bei der Untersuchung ist auf den allgemeinen Status zu achten (blasse Konjunktiven, konsumierende Erkrankung, wie bewegt sich der Patient, Ausdrucksweise dramatisierend oder sachlich). Der Kreislaufstatus umfasst Blutdruck/Puls (ggf. auch im Stehen), Herzaus-kultation sowie Achten auf Zeichen von Herzinsuffizienz/Stauung. Bei vermutetem zervikogenem Schwindel ist die HWS zu untersuchen (Verspannungen, Bewegungseinschränkung sowohl in Ante- als auch in Re-troflexion). Die orientierende neurologische Untersuchung umfasst neben dem Reflexstatus Sensibilitätstests mit einer Stimmgabel (Ausschluss einer Polyneuropathie) und die Prüfung zentraler Funktionen durch Vorhalteversuch, Stehversuch nach Romberg, Tretversuch nach Unterberg, Diadochokinese sowie Finger-Nase- und Knie-Hacken-Versuch. Weitere Tests sind ggf. Nystagmusprüfung und Lagerungsversuche.

Red Flags

Schwindel kann das einzige Warnsymptom einer akuten zerebrovaskulären Ischämie (insbesondere Kleinhirninfarkt) sein, vor allem wenn er plötzlich einsetzt und von Übelkeit/Erbrechen begleitet wird. Treten zusätzlich Dysphonie, Schluckstörungen, Schluckauf oder Drehbewegungen der Augen auf, ist an das Wallenberg-Syndrom zu denken. Kreislaufregulations- und Sehstörungen sowie sensible Störungen im Gesicht können Zeichen einer akuten Basilarisinsuffizienz sein. Weitere Red Flags im Sinn einer zerebrovaskulären Ischämie sind vertikaler Nystagmus, Seh-/Schluckstörungen, beeinträchtigte Vigilanz und Paresen. Vor allem bei bekannten kardiovaskulären Grunderkrankungen ist auf bedrohliche Arrhythmien oder eine Aortenklappenstenose zu achten. Zu den selteneren Differenzialdiagnosen gehören Lungenembolien und die hypertroph-obstruktive Kardiomyopathie.

Patienten mit Verdacht auf M. Menière (Ohrdruck, meist kurz vor dem Schwindel beginnend), akuter Labyrinthitis oder Herpes zoster oticus (Gesichtsschmerz, typische einseitige Effloreszenzen) sollten rasch an Spezialisten überwiesen werden. Auch ein vermutetes Akustikusneurinom (oft zusätzlich Hörstörung für hohe Töne, manchmal Fazialisparese) muss zwar genau abgeklärt werden, aber nicht sofort.

Quelle: DEGAM-Leitlinie 17: “Akuter Schwindel in der Hausarztpraxis”. AWMF-Register Nr. 053-018. https://www.degam.de/leitlinien.html

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