ExpertengesprächTabu: “Patienten aktiv auf Blasenprobleme ansprechen!”

Harninkontinenz ist eine Volkskrankheit. Mangels Gewinnaussichten wird aber nicht zu neuen pharmakologischen Behandlungsmethoden bei Blasenschwäche geforscht, beklagte Prof. Andreas Wiedemann aus Witten im Expertengespräch.

Bei Dranginkontinenz sollte die Blase regelmäßig entleert werden.

Wie häufig suchen Patienten wegen Harninkontinenz eine hausärztliche Praxis auf?

Wiedemann: Wir haben vor vielen Jahren bei einer Umfrageaktion in Wartezimmern herausgefunden, dass fast jeder zweite über 70-Jährige damit ein Problem hat. In diesem Alter sind Männer fast genauso häufig betroffen wie Frauen.

Viele Patienten sprechen oft erst nach mehreren Jahren Leidenszeit über ihre Blasenbeschwerden. Aber auch von ärztlicher Seite wird dieses Thema oft verdrängt und eher als pflegerisches Versorgungsproblem gesehen. Da es viele nichtmedikamentöse und medikamentöse Hilfen gibt, sollten wir die Patienten aktiv darauf ansprechen, wenn wir Uringeruch wahrnehmen oder sich eine Vorlage unter der Kleidung abzeichnet.

Was gehört zur Basisdiagnostik bei Harninkontinenz?

Das sind im Wesentlichen eine gründliche Anamnese, eine Urinuntersuchung zum Ausschluss einer Infektion und die sonographische Restharnbestimmung.

Anhand der geschilderten Beschwerden lässt sich fast immer beurteilen, ob eine Belastungs- oder eine Dranginkontinenz im Vordergrund steht. Wichtig ist ferner, nach Vorerkrankungen, Operationen oder Bestrahlungen im urologischen Bereich zu fragen und zu klären, ob Medikamente (Mit-)Ursache der Blasenprobleme sind (Der Wittener Harntraktrechner gibt unter www.harntrakt.de Auskunft darüber, welche Medikamente Nebenwirkungen auf den Harntrakt haben können und ermittelt einen Risikoscore).

Dazu gehören unter anderem Alphablocker, Diuretika oder Sedativa. Zur Basisdiagnostik gehört ferner immer eine Sonographie auf Restharn. Das gilt besonders für Männer, denn eine Prostatahyperplasie kann mit einer hyperaktiven Blase einhergehen. Dämpft man hier die Blasenaktivität, droht dem Patienten ein Harnverhalt!

Welche Laborkontrollen sind nötig?

Gerade bei vielen älteren Menschen besteht eine chronische Bakteriurie ohne Brennen beim Wasserlassen, die Ursache einer hyperaktiven Blase sein kann. Der Urinstatus deckt aber nur jede zweite Harnwegsinfektion auf, unter anderem, weil viele Erreger gar kein Nitrit produzieren.

Umgekehrt kommen Leukozyten oder Erythrozyten auch ohne Harnwegsinfektion im Urin vor, insbesondere bei Frauen. Daher ist als Ergänzung eine Erregerkultur aus Mittelstrahlurin wichtig.

Wann ist eine weiterführende Diagnostik bei Spezialisten nötig?

Immer dann, wenn man eine Harninkontinenz nicht genau zuordnen kann oder eine komplexe Vorgeschichte besteht, etwa eine Parkinson-Erkrankung, Multiple Sklerose oder Operationen im Bereich des Harntrakts.

Welche Differenzialdiagnosen müssen bedacht werden?

Bei der Abklärung einer Nykturie ist unter anderem an Herzinsuffizienz, benigne Prostatahyperplasie, Schlafapnoe oder ADH-Mangel zu denken. Wenn ein zeitlicher Zusammenhang mit Eingriffen im kleinen Becken wie Hysterektomie oder Rektumchirurgie besteht, muss zystoskopisch eine Fistel ausgeschlossen werden.

Lassen sich Stress- und Dranginkontinenz immer klar abgrenzen?

Nein, Mischformen sind gerade bei älteren Menschen häufig. Das ist aber für die Praxis kein Problem, denn die Behandlung orientiert sich an dem vorherrschenden Symptom, das die Lebensqualität am meisten beeinträchtigt – und das ist meistens der Harndrang bei hyperaktiver Blase. Mit einer Belastungsinkontinenz kommen die vorwiegend davon betroffenen Frauen dagegen meistens ganz gut zurecht.

Was ist von einer Begrenzung der Trinkmenge oder vom Verzicht auf Koffein zu halten, um den Harndrang vorübergehend zu dämpfen?

Eine Pollakisurie oder eine Nykturie kann man mit Dursten kaum in den Griff bekommen, weil das Urothel der Blase Sensoren für die Osmolarität des Urins hat, über die konzentrierter Urin eine Miktion anstoßen kann.

Besonders schlimm ist, wenn sich ältere Menschen aus Angst vor einem Malheur zurückziehen und sozial isolieren, denn das beschleunigt den geistigen Abbau. Ein Verzicht auf Koffein kann sinnvoll sein, weil es durch adrenerge Stimulation die Wasserausscheidung vorübergehend steigert.

Was gehört zur nichtmedikamentösen Therapie der Dranginkontinenz?

Nützlich ist, die Blase regelmäßig zu entleeren. Ferner können Ablenkungsmanöver helfen, den Harndrang zu verringern, etwa das Aufsagen eines Gedichts oder Rückwärtszählen von 100 in Siebener-Schritten. Für kurze Zeit lässt sich der Detrusor hemmen, wenn man den Beckenboden und die Glutäalmuskulatur maximal anspannt.

Welchen Nutzen hat Beckenbodentraining?

Es ist bei beiden Inkontinenzformen sehr wirksam. Wichtig ist aber, dass es nicht anhand einer Broschüre oder eines Videos aus dem Internet gelernt wird, sondern bei darauf spezialisierten Physiotherapeuten, die auch vaginal tasten dürfen, um ein Gespür für die Funktion des Beckenbodens zu vermitteln.

Welche Hilfsmittel gibt es?

Für Frauen sind Inkontinenztampons verfügbar, die bei Stressinkontinenz in bestimmten Situationen getragen werden können, etwa beim Tanzen oder während einer Gymnastikstunde. Ein Deszensus lässt sich mit Pessaren temporär reponieren.

Schließlich gibt es die zahlreichen Vorlagen für Frauen und Männer. Sie sind bei genauer ICD-Kodierung auch per Hilfsmittelrezept verordnungsfähig. In der Regel schreiben die Kassen aber vor, welche Vorlagen zu verwenden sind. Zudem ist das Budget in der Größenordnung von 12 bis 15 Euro pro Monat schnell erschöpft.

Welche Medikamente kommen wann zum Einsatz?

Für die Belastungsinkontinenz spielen Medikamente so gut wie keine Rolle. Verordnungsfähig bei mittelschwerer bis schwerer Belastungsinkontinenz der Frau ist nur Duloxetin, das aber wegen zahlreicher Nebenwirkungen und Interaktionen kaum noch eingesetzt wird.

Die hyperaktive Blase lässt sich dagegen mit Antimuskarinika sehr gut dämpfen. Alle Anticholinergika sind hier etwa gleich gut wirksam und unterscheiden sich hauptsächlich in den Nebenwirkungen. Mit Ausnahme von Trospiumchlorid (und Butylscopolamin, das bei Dranginkontinenz aber nicht eingesetzt wird) sind sie lipophil und folglich ZNS-gängig. Daher können sie die kognitive Leistung beeinträchtigen.

Dabei ist zu beachten, dass sich die sogenannte anticholinerge Last durch einzelne Medikamente addiert: Während zwei Wirkstoffe mit anticholinergen Nebeneffekten noch toleriert werden, kann der dritte zur kognitiven Dekompensation bis zum Delir führen.

Schwach dämpfend auf Muskarinrezeptoren wirken auch viele “unverdächtige” Substanzen wie Metoprolol, Digoxin oder Phenprocoumon (Die anticholinerge Last durch Medikamente lässt sich z.B. auf www.acbcalc.com berechnen: Ab einem Score von 3 besteht ein erhöhtes Risiko für eine kognitive Verschlechterung).

Ein weiterer Vorteil von Trospiumchlorid ist, dass es nicht über Cytochrome verstoffwechselt wird und daher nicht mit dem Abbau anderer Medikamente interagiert. Kontraindiziert sind alle Anticholinergika bei Engwinkelglaukom und Restharnbildung.

Wann kann man Mirabregon anwenden?

Dieser Wirkstoff verfolgt ein ganz anderes Prinzip, denn er bremst den Detrusor durch Stimulation von Beta-3-Rezeptoren. Da Mirabregon in geringerem Maß auch andere Betarezeptoren stimuliert, muss man den Blutdruck sorgfältig überwachen. Mirabregon und ein Anticholinergikum lassen sich gut kombinieren. Wegen der niedrigeren Dosis der Einzelsubstanzen werden sie in Kombination meistens besser vertragen.

Welche Rolle spielt Botulinumtoxin?

Es kann zu Lasten der GKV bei Dranginkontinenz angewendet werden, wenn Anticholinergika nicht ausreichend wirksam sind oder nicht vertragen werden. Nach Injektion in die Blasenwand bei einer Zystoskopie hält der Effekt etwa neun Monate an.

Und schließlich DDAVP?

Das antidiuretische Hormon ist neben der Enuresis bei Kindern auch bei Nykturie zugelassen. Gerade bei älteren, multimorbiden Patienten ist es aber problematisch, weil es die Diurese für Stunden drosselt. Das kann zu Hyperhydratation führen und zum Beispiel eine Herzinsuffizienz manifest werden lassen. Zudem hat DDAVP keinerlei Effekt auf die Inkontinenzbeschwerden am Tag.

Vielen Dank für das Gespräch.

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