InterviewMedizin für Menschen mit Behinderung

Im vergangenen Jahr wurde die erste Professur für Behindertenmedizin an der Universität Bielefeld geschaffen. Lehrstuhlinhaberin Tanja Sappok erklärt im Interview, warum die Anamnese bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen zur Detektivarbeit werden kann – und gibt Tipps, wie sich Ärztinnen und Ärzte fortbilden können.

Das Down-Syndrom ist die häufigste genetische Ursache für eine Störung der Intelligenzentwicklung in westlichen Ländern.

Was sind die Schwerpunkte Ihrer Professur und was lernen Studierende bei Ihnen?

In Bezug auf die Professur gibt es zwei verschiedene Bereiche: Einmal die wissenschaftliche Seite und einmal die Lehre. Bei der Lehre ist mir wichtig, den Studierenden von Anfang an Berührungsängste zu nehmen und sie allmählich an die Besonderheiten im Umgang mit Menschen mit Behinderung heranzuführen.

Gleich zu Beginn haben wir daher auch Menschen mit Behinderung in die Lehre einbezogen, die als Unterstützung für die Dozierenden am Lehrunterricht teilnehmen. Das erlebe ich als wahnsinnig bereichernd.

Die Studierenden erlernen zudem bestimmte Fähigkeiten, beispielsweise in Bezug auf Leichte Sprache oder auf alternative Kommunikationsformen mit Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen. Aber auch hinsichtlich Autismus-Spektrum-Störungen, also zum Beispiel ein Bewusstsein für die Überempfindlichkeit gegenüber bestimmten Geräuschen oder Lichtverhältnissen.

Was sehr zentral ist: dass man sich Zeit nimmt und auf die Geschwindigkeit der Patientinnen und Patienten einlässt, weil einfach Antworten manchmal ein bisschen länger brauchen. Wichtig ist auch, Angehörige und Bezugspersonen als Informationsquelle einzubeziehen.

Ein anderer inhaltlicher Schwerpunkt der Lehre ist die Vermittlung behinderten-assoziierter Krankheitsbilder. Dazu gehören Autismus-Spektrum-Störungen, die besonders oft vorkommen, oder beispielsweise körperliche und psychische Besonderheiten beim Down-Syndrom. Deutlich häufiger treten bei Menschen mit Behinderung zudem Verhaltensstörungen auf.

Die wissenschaftliche Seite der Professur widmet sich der Erforschung somatischer und psychischer Krankheitsbilder bei Menschen mit Behinderungen. Außerdem der Erarbeitung entwicklungsbasierter Diagnosekriterien von psychischen Erkrankungen, aber auch der Analyse der Mensch-Umwelt-Interaktion, der interprofessionellen Vernetzung und der Entwicklung eines Lehrplans im Kontext des Modellstudiengangs Medizin.

Welche Krankheitsbilder treten denn etwa bei Menschen mit Trisomie 21 besonders häufig auf?

Das Down-Syndrom ist die häufigste genetische Ursache für eine Störung der Intelligenzentwicklung in westlichen Ländern. Bei Trisomie 21 treten häufig Schilddrüsenerkrankungen auf, die oft autoimmun bedingt sind. Auch andere Autoimmunerkrankungen wie Alopecia areata kommen vermehrt vor, ebenso Herzfehlbildungen.

Leicht übersehen werden Sehstörungen, beispielsweise das früh einsetzende Katarakt, ein Keratokonus oder eine extreme Myopie, die nicht nur zu Visusminderung, sondern im Verlauf zu einer Retinopathie bis hin zur Netzhautablösung und Erblindung führen kann. Wichtig sind hier regelmäßige augenärztliche Kontrollen des Augenhintergrunds.

Die Trisomie ist häufig schon in jüngeren Lebensjahren mit Alzheimererkrankungen assoziiert – ungefähr 20 Jahre früher als in der Allgemeinbevölkerung.

Da macht es durchaus Sinn, ab dem 40. Lebensjahr eine Leistungsdiagnostik durchzuführen, um einen Basiswert zu haben, mit dem man Veränderungen nachvollziehen und dann auf Ursachenforschung gehen kann – denn auch bei Menschen mit Down-Syndrom ist die differentialdiagnostische Abklärung abnehmender kognitiver Fähigkeiten wichtig.

Auslöser kann etwa auch eine sich entwickelnde Hypothyreose oder ein Vitaminmangel sein, die gut kausal behandelbar sind. Was tatsächlich auch gar nicht so selten vorkommt, sind Autismus-Spektrum-Störungen, die manchmal nicht erkannt werden, weil Menschen mit Down-Syndrom vom Naturell her eher kontaktfreudig sind.

Wie sind Sie eigentlich zu Ihrem Fachgebiet gekommen?

Tatsächlich durch Zufall! Im Rahmen meiner neurologischen Facharztausbildung bin ich für das psychiatrische Jahr in eine psychiatrische Klinik gekommen, die auch den Versorgungsauftrag für Menschen mit psychischen Erkrankungen und Entwicklungsstörungen hat, das Berliner Behandlungszentrum für psychische Gesundheit bei Entwicklungsstörungen (BHZ) am Evl. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge.

Aufgrund meiner neurologischen Expertise hat der damalige Chefarzt, Herr Prof. Diefenbacher, mich innerhalb seiner Abteilung ins Behandlungszentrum rotieren lassen – und ich habe tatsächlich Feuer gefangen. Sowohl die Arbeit mit den Patientinnen und Patienten als auch mit den Teamkollegen habe ich als sehr bereichernd und warmherzig empfunden.

Gleichzeitig ist die Arbeit auch medizinisch und intellektuell extrem spannend, weil man mit so vielen seltenen Syndromen und ungewöhnlichen Krankheitsbildern zu tun hat.

Es gab Fragestellungen, die sich anhand der Literatur nicht gut beantworten ließen und die ich mir selbst erarbeiten musste – daraus haben sich viele meiner späteren Forschungsschwerpunkten entwickelt, zum Beispiel die Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter oder die Demenzdiagnostik bei Menschen mit intellektuellen Einschränkungen.

Auch das Arzt-Patienten-Gespräch mit Menschen mit einer intellektuellen Behinderung gestaltet sich ja bisweilen schwierig. Haben Sie Tipps?

Wichtig und sinnvoll ist, sich mit Leichter Sprache zu beschäftigen. Außerdem sollte man ausreichend Zeit einplanen und vielleicht eher einen Randtermin vergeben, um nach hinten heraus etwas mehr Zeit zu haben. Wichtig ist auch, nicht gleich in Aktion zu gehen, sondern erst einmal zu beobachten und sich selbst die Zeit zu geben, sich auf den Menschen und dessen Rhythmus einzulassen.

Außerdem: Fragen! Wenn man selbst unsicher ist – zum Beispiel, ob man den Patienten mit Vor- oder Nachnamen anreden soll – einfach die Person selbst oder – wenn das nicht geht – die Begleitperson fragen. Es kann auch helfen, in der Praxis den Kittel auszuziehen und nicht gleich mit den Arztinstrumenten aufzutreten, weil viele sehr unsicher sind.

Oder der Patientin den Reflexhammer erst einmal in die Hand zu drücken, damit sie sieht: Das ist nichts Schlimmes. Wirklich hilfreich ist die Einbeziehung von Angehörigen oder Betreuenden. Man kann unter Umständen schon im Vorfeld bestimmte Informationen abfragen, sei es zur medizinischen Vorgeschichte und den Lebensumständen, aber auch zu Hobbies oder Beruf – das sind Infos, die den Einstieg in ein Patientengespräch ungemein erleichtern.

Gibt es für Ärztinnen und Ärzte Fortbildungsangebote im Bereich Behindertenmedizin oder haben Sie Lektüretipps?

Seit einigen Jahren gibt es eine curriculäre Fortbildung “Medizin für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung oder mehrfacher Behinderung”, die von der Bundesärztekammer anerkannt und zertifiziert ist und berufsbegleitend gemacht werden kann (mehr Infos unter www.hausarzt.link/G2F1K und www.hausarzt.link/FFLuF).

Dazu gehört auch ein Praktikum, das man in einem Zentrum der Wahl durchführen kann. Dieses wird von verschiedenen Veranstaltern, beispielsweise in Würzburg, Bielefeld und Hamburg, angeboten.

Bücher habe ich selbst einige herausgebracht, insbesondere zur psychischen Gesundheit von Menschen mit Behinderung, und auch Herr Dr. Christian Schanze hat ein sehr gutes Lehrbuch herausgegeben (mehr dazu in den Bücher-Tipps oben).

Sinnvoll sind auch Fortbildungen zu Leichter Sprache, zudem gibt es speziell für Ärztinnen und Ärzte eine Materialsammlung, mit medizinischen Aufklärungsbögen in Leichter Sprache und mit Piktogrammen (siehe Bücher-Tipps, Anm.: Auch hier ist Prof Tanja Sappok Herausgeberin). Das hilft mir persönlich im Patientengespräch oft enorm.

Zum Buch gehört auch ein “Ich-Buch”, das Menschen mit Behinderungen selbst oder mit Unterstützung ausfüllen können (siehe Bücher-Tipps). Darin können Sie angeben, was sie persönlich stresst, wie sie gut einschlafen können oder was ihre Hobbies sind.

Das lasse ich gerne im Vorfeld eines Klinikaufenthaltes ausfüllen, um individueller auf die persönlichen Bedarfe der Patientinnen und Patienten eingehen zu können.

Ihre Professur ist ja die erste ihrer Art in Deutschland, das Thema wird hierzulande bisher eher vernachlässigt. Machen es andere Länder besser?

Oh ja, auf jeden Fall. Vor allem die Niederlande und Großbritannien, hier gibt es bereits Lehrstühlefür Medizin für Menschen mit Behinderung. Die Gesundheitssysteme sind viel besser auf Menschen mit Behinderung eingestellt, es gibt eine höhere ärztliche Expertise und besser ausgebaute Behandlungsmöglichkeiten mit mobilen Teams.

Außerdem können sich Ärztinnen und Ärzte besser fortbilden, es gibt sogar Fachärzte für dieses Fachgebiet.

Ein Problem ist, dass in Deutschland, aber auch weltweit so wenig in diesem Bereich geforscht wird. Ich glaube, viele scheuen sich, Menschen mit Behinderung zu Forschungsobjekten zu machen, insbesondere wenn sie nur eingeschränkt einwilligungsfähig sind und andere stellvertretend einwilligen müssen. Das führt aber am Ende dazu, dass im konkreten Fall keine validen Behandlungsempfehlungen verfügbar sind.

Ich hoffe, dass deutschlandweit weitere Lehrstühle zur “Medizin für Menschen mit Behinderungen” etabliert werden, dass das wissenschaftliche Leben angeregt wird und dass dadurch mehr empirische Erkenntnisse entstehen, die dann den Menschen in der klinischen Versorgung zugutekommen.

In Deutschland gibt es seit einigen Jahren Medizinische Zentren für Erwachsene mit mehrfacher und geistiger Behinderung (MZEB). Wie ist hier der aktuelle Stand?

Mittlerweile gibt es deutschlandweit über 50 Medizinische Zentren für Erwachsene mit mehrfacher und geistiger Behinderung, auf der Webseite des Vereins BAG MZEB (www.bagmzeb.de) kann man sich anschauen, welche aktiv sind und welche noch nicht.

Meiner Einschätzung nach wären in Deutschland circa 100 bis 120 dieser Zentren erforderlich, um flächendeckend eine gute Gesundheitsversorgung für besonders komplexe Fälle anzubieten. Das Netz ist also noch ausbaufähig.

Die Entstehung der MZEB war meines Erachtens nach ein wichtiger Faktor, um die medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung in Deutschland zu verbessern. Denn dadurch sind nicht nur Versorgungsangebote entstanden, sondern auch Weiterbildungsstätten und Arbeitsplätze für Ärztinnen und Ärzte. Das hat eine enorme Schubkraft bedeutet.

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