© IPPNWArzt untersucht die Schilddrüse eines jungen Mannes. Das Risiko einer Schilddrüsenkrebserkrankung ist 20-fach erhöht bei Kindern aus der Region Fukushima.
Die Maßnahmen der japanischen Regierung, das Ausmaß der Havarie gegenüber der Bevölkerung herunterzuspielen, habe zudem das Einverständnis großer internationaler Behörden: UNSCEAR (wissenschaftliches Komitee der UN zu den Auswirkungen atomarer Strahlung) und IAEO (Internationale Atomenergiebehörde), prangert IPPNW an.
Claussen beschäftigt sich mit den psychosozialen Folgen der Atomkatastrophe und ist Mitautorin der IPPNW-Studie “Gesundheitliche Folgen der Atomkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima”. Der Expertin zufolge hat Japan die psychologischen und sozialen Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima zwar beforscht, aber allen vorhandenen Studien fehlt die ganzheitliche Perspektive, weil ausschließlich per Fragebogen Symptome abgefragt wurden.
In ihren Studien stellten die Forscher zudem die Einschätzung voran, dass es nicht nötig sei, mögliche körperliche strahlenbedingte Erkrankungen zu erforschen. Denn das Ausmaß der radioaktiven Strahlung sei sehr niedrig gewesen.
Psychische Leiden stiegen stark
“Menschen mussten ihre Heimat verlassen, erlitten Traumata und hatten Angst vor Radioaktivität”, sagt Claussen. Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen, Alkoholmissbrauch, Suizide, öffentliche Stigmatisierung und Selbststigmatisierung stiegen in der Präfektur Fukushima nach dem GAU stark.
Dafür seien viele Faktoren verantwortlich: Trennung von der Familie, plötzlicher Verlust des Arbeitsplatzes und das Wegbrechen sozialer Beziehungen. “Leider begünstigt dies die japanische Mentalität: Die Gesellschaft ist sehr stark durch kollektive Werte geprägt. Anders zu sein ist immer ein Problem, in ländlichen Gebieten ist es schlimmer als in städtischen”, so Claussen.
Dazu kommt eine der weltweit höchsten Mobbingraten. Vor allem umgesiedelte Kinder und Jugendliche litten unter den Attacken von Mobbern und unter Stigmatisierung. “Radioaktive Strahlung wirkt zweifach belastend auf die Psyche. Zum einen ist sie eine reale Bedrohung, die körperliche Auswirkungen hat wie Krebs. Zum anderen ist eine dann auftretende Krebserkrankung großer seelischer Stress für die Betroffenen und die Angehörigen”, sagt Claussen.
Kinder seien am meisten gefährdet, sie erkrankten länger und dürften ihrem Drang nach Bewegung nicht nachgehen.
Japan leugnet die Kernschmelze
“Strahlenschäden kommen nicht zu Menschen, die glücklich sind und lächeln”, kommentierte hingegen der oberste Strahlenschutzexperte von Japan, Prof. Shunichi Yamashita, kurz nach der Havarie. Das Wort “Kernschmelze” erschien laut IPPNW in keiner der Veröffentlichungen der japanischen Behörden.
Im Gegenteil heißt es, unter den Überlebenden herrsche eine “Radiophobie”. Die Behörden bezeichneten damit eine reale Angst als Krankheit. “Es ist eine wichtige therapeutische Maßnahme, das Trauma als solches zu bennenen und zu akzeptieren. Traumatisierte müssen einsehen, dass sie Schreckliches erlebt haben, das nicht normal ist”, berichtet Claussen aus ihrer langjährigen Erfahrung in der Traumatherapie.
Die Intransparenz und Fehlinformation der japanischen Behörden führten zu einer großen Verunsicherung bei den Traumatisierten, sie entwickelten oft das Gefühl, sie seien selbst schuld. “Das belastet zusätzlich und ist schädlich für den gesamten Prozess der Traumabewältigung”, sagt Claussen.
“Es hat sich viel verändert seit der Katastrophe: Nur noch vier der ehemals 54 Kernreaktoren sind noch in Betrieb. Trotz dem starken politischen und industriellen Bestreben, die Reaktoren wieder anlaufen zu lassen, konnten es mehrere, hauptsächlich von Anwohnern organisierte Vereinigungen durch ihr Engagement verhindern”, berichtet Prof. Masae Yuasa, Soziologin der Hiroshima State University.
“Der Widerstand aus der Bevölkerung, die Proteste und Klagen gegen die Wiederinbetriebnahme einiger Reaktoren haben oft zum Ziel geführt”, erinnert sich auch Claussen.
Kritik an der Kommunikation
Die Psychiaterin war damals mit mehreren Frauen aus Selbsthilfegruppen im Gespräch: “Eine Frau sagte, dass sie damals nur durch einen Verwandten, der bei Tepco arbeitete, von dem GAU, wohin sich die radioaktive Wolke ausbreitete und von den Evakuierungsplänen erfuhr. Diese Info hätte von der Regierung kommen müssen!”
Seit der dreifachen Kernschmelze müssen die hoch radioaktiven Reaktorhülsen in Fukushima permanent mit Wasser von außen gekühlt werden. Täglich werden 170 Tonnen stark kontaminiertes Wasser gelagert, insgesamt waren im November 2020 über 1,2 Millionen Tonnen Wasser in mehr als 1.000 Tanks in der Sperrzone.
Langsam gehe der Platz aus, heißt es von Seiten der japanischen Regierung. Sie und Tepco äußerten bereits Pläne, das verseuchte Wasser in das umliegende Meer zu leiten. Ein Horrorszenario für Anwohner und Fischer.