RechtBundesgericht hängt Messlatte für Cannabis auf Rezept hoch

Seit 2017 dürfen Ärztinnen und Ärzte schwerkranken Patienten Cannabis auf Kassenrezept verordnen. Allerdings waren bislang noch viele Fragen offen. Das Bundessozialgericht hat jetzt in vier Fällen entschieden. Danach ist klar: Die Hürden für die Verordnung sind hoch.

Wenn Standardtherapien zur Verfügung stehen, hängen die Bundessozialrichter die Messlatte bei der Verordnung von Cannabis sehr hoch.

Kassel. Viele Schmerzpatienten freuten sich, als der Gesetzgeber 2017 einen Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in der gesetzlichen Krankenversicherung geschaffen hatte. Allerdings ist der bürokratische Aufwand für Praxen hoch und die Krankenkassen müssen der Verordnung zustimmen.

Außerdem offenbarten sich im Alltag viele Fragen. Wann etwa liegt eine schwerwiegende Erkrankung vor? Wie viele erfolglose Therapieversuche sind Patienten zumutbar? Welche Anforderungen müssen die behandelnden Ärzte erfüllen? Wie streng dürfen die Krankenkassen die ärztliche Therapieentscheidung kontrollieren?

Kassen weisen oft auf Standardtherapien hin

Vier Fälle wurden am Donnerstag (10.11.) vor dem Bundessozialgericht verhandelt. Klar gemacht haben die höchsten Sozialrichter, dass die Hürden für eine Verordnung sehr hoch sind.

Konkret ging es um folgende vier Sachverhalte:

  1. Ein 1979 geborener Patient beantragte bei seiner Kasse die Kostenübernahme von Cannabisprodukten auf Privatrezept wegen seiner Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Die Behandlung mit Medikinet Adult sei erfolglos gewesen und habe gravierende Nebenwirkungen gehabt. Die Kasse lehnte die Kostenübernahme ab. Ein Sachverständiger hatte zudem ein langjähriges chronisches Cannabis-Abhängigkeitssyndrom festgestellt.
  2. Einem seinerzeit 41jährigen Epileptiker hatte ein Vertragsarzt Cannabis auf Rezept verordnet. Die medikamentöse Therapie sowie eine Krankenhausbehandlung seien erfolglos geblieben. Die Kasse lehnte die Kostenübernahme ab, da Standardtherapien vorlägen, die bisher nicht eingesetzt worden seien.
  3. Eine 1973 geborene, multimorbide Patientin litt unter anderem unter posttraumatischen Belastungsstörungen, einer Migräne mit Aura, einer chronischen Schmerzkrankheit, einem Stress-Syndrom, einer kombinierten depressiven Störung und Angststörung, einer Schlafstörung, Dysmenorrhö und Hyperhidrosis. Auch hier lehnte die Kasse die Übernahme der Cannabis-Verordnung mit Hinweis auf Standardtherapien ab. Auch wenn eine schwerwiegende Erkrankung vorliege.
  4. Ein 1990 geborener Patient verlangte die Kostenübernahme einer Cannabisverordnung auf Privatrezept. Schmerztherapeut und Hausarzt hatten die Therapie befürwortet. Beim Patienten waren unter anderem Fibromyalgie, ein chronisches Schmerzsyndrom sowie eine Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung diagnostiziert worden. Die Kasse lehnte mit Hinweis auf den MDK die Kostenübernahme ab. Es seien Standardtherapien verfügbar.

So viel vorab: Die Richter wiesen drei der Klagen ab, der erste Fall wurde zur weiteren Klärung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Weiterhin Interpretations-Spielräume

Wann eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, die eine Verordnung von Cannabis begründet – dafür geben die höchsten Richter allenfalls Hinweise. „Der Anspruch auf Versorgung mit Cannabis besteht nur zur Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung. Eine Erkrankung ist schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt“, heißt es im Urteil.

Lebensqualität ergebe sich nicht allein aus einer ärztlich gestellten Diagnose. Entscheidend seien Funktionsstörungen und -verluste, Schmerzen, Schwäche und Hilfebedarf bei den Verrichtungen des täglichen Lebens, welche die Lebensqualität beeinträchtigen.

„Die Auswirkungen der Krankheit mit den sich aus diesen ergebenden Beeinträchtigungen müssen sich durch ihre Schwere vom Durchschnitt der Erkrankungen abheben“, erklären die BSG-Richter. Einen Hinweis könne eine Schwerbehinderung von 50 Prozent sein. Dann könne im Regelfall von einer schwerwiegenden Erkrankung ausgegangen werden. Aber auch dies sei nicht starr zu verstehen.

Bei multimorbiden Patienten sei auf die Gesamtauswirkungen der Erkrankungen abzustellen, erklären die Richter in ihrem Urteil.

Hohe Anforderung an Dokumentation

Medizinisches Cannabis, stellten die Richter klar, darf von Ärzten auch verordnet werden, wenn noch Standardtherapien zur Verfügung stehen. Dann sind aber die Anforderungen an die Dokumentation sehr hoch.

Wenn der Arzt trotz Standardtherapien Cannabis verordnen möchte, stellen die höchsten Richter folgende Muss-Anforderungen an die Einschätzung des Arztes:

  • Dokumentation des Krankheitszustandes mit bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten und gegebenenfalls Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte,
  • Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankung(en), ihrer Symptome und des angestrebten Behandlungsziels,
  • bereits angewendete Standardbehandlungen, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen,
  • noch verfügbare Standardtherapien, deren zu erwartender Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und die zu erwartenden Nebenwirkungen,
  • Abwägung der Nebenwirkungen einer Standardtherapie mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis. In die Abwägung einfließen dürfen dabei nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen.

Die Krankenkassen wiederum dürfen eine solche (umfassende) ärztliche Einschätzung im Gegenzug nur daraufhin überprüfen, ob die Grundlagen der Entscheidung vollständig und nachvollziehbar sind und das Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel ist, erklären die Richter.

Süchtig nach Cannabis? Verordnung trotzdem möglich!

Eine Suchtmittelabhängigkeit jedenfalls steht der Verordnung von medizinischem Cannabis nicht grundsätzlich im Wege. Allerdings muss der verordnende Arzt hier ebenfalls sorgfältig abwägen, so die Richter.

Im Urteil wird auch noch einmal das Wirtschaftlichkeitsgebot betont. Versicherte haben nur Anspruch auf Versorgung mit dem kostengünstigsten Mittel, wenn mehrere Mittel gleich geeignet sind.

„Bei voraussichtlich gleicher Geeignetheit von Cannabisblüten, Cannabisextrakten und Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon besteht nur ein Anspruch auf Versorgung mit dem kostengünstigsten Mittel. Die Krankenkasse ist berechtigt, trotz Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen die Genehmigung der vom Vertragsarzt beabsichtigten Verordnung zu verweigern und auf eine günstigere, voraussichtlich gleich geeignete Darreichungsform zu verweisen“, so die Richter.

Das muss die Verordnung enthalten

Für die Erteilung der Genehmigung einer Cannabis-Verordnung zählen die Richter folgende Formalien auf:

Der Vertragsarzt teilt der Krankenkasse den Inhalt der geplanten Verordnung mit. Oder der Versicherte übermittelt der Kasse die Erklärung des Vertragsarztes. Notwendig sind (Paragraf 9 Abs 1 Nr 3-5 Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV)) die Arzneimittelbezeichnung, die Verordnungsmenge und die Gebrauchsanweisung mit Einzel- und Tagesdosis und Anwendungsform.

Quelle: Bundessozialgericht, Urteile vom 10.11.2022, AZ: B 1 KR 28/21 R, B 1 KR 21/21 R; B 1 KR 19/22 R; B 1 KR 9/22 R

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