Berlin. Trotz verschiedener Bedenken beim Einsatz von Cannabis in der Medizin rechnet die Techniker Krankenkasse (TK) mit einem weiteren Anstieg bei den Verordnungen. Nach der Freigabe im März 2017 habe man eine deutliche Zunahme beobachtet und es sei durchaus noch eine Verdoppelung oder Verdreifachung möglich, sagte TK-Vorstandschef Jens Baas am Donnerstag (17. Mai) in Berlin. Die Kasse stellte ihren „Cannabis-Report” vor, der mit der Uni Bremen entstand. Demnach gingen seit den Gesetzesänderungen mehr als 16.000 Anträge bei den gesetzlichen Krankenkassen ein (Stand Februar 2018). Davon seien mehr als 60 Prozent genehmigt worden. Laut dem Report ist Cannabis aber nur selten eine Alternative zu bewährten Therapien.
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Denn in der Praxis läuft der Prozess auch heute noch nicht rund: Zu Unsicherheiten über die Indikationen gesellen sich Lieferprobleme und noch inhomogene Erstattungsgenehmigungen der Kassen. Auch blieb in der politischen Diskussion die Frage der geeigneten Zubereitungsformen weitestgehend ausgeklammert.
Wie die TK-Daten zeigen, wird Cannabis bislang vor allem wegen Schmerzen eingesetzt. In den alten Bundesländern scheint es gefragter zu sein als in den neuen, über die Ursachen könne man nur spekulieren, hieß es. Für die TK habe medizinisches Cannabis mit knapp 3.000 Anträgen und Kosten von 2,3 Millionen im Jahr 2017 keinen besonderen Stellenwert, betonte Baas. Das große öffentliche Interesse am Thema und auch Mythen seien Anlass für den Report gewesen.
MS, Epilepsien, Übelkeit durch Chemotherapie
Er plädierte dafür, Cannabis wie jedes andere neue Medikament zu behandeln. Es habe jedoch im Vergleich zu anderen Medikamenten eine Sonderstellung im Gesetz. Dadurch müssten Hersteller nicht – wie sonst üblich – nachweisen, dass ihr Produkt einen Zusatznutzen hat.
Einen Anlass, Cannabis für ein pflanzliches und damit grundsätzlich gutes Mittel zu halten, sehen die Verfasser der Untersuchung um den Pharmakologen Prof. Gerd Glaeske nicht. Bestenfalls „denkbar” sei die Anwendung anhand der Studienlage bei chronischem Schmerz, Spasmen bei Multipler Sklerose, Epilepsien, bei Übelkeit durch Chemotherapie und um den Appetit bei HIV und Aids zu steigern, heißt es im Report. Insgesamt bleibe weiter unklar, welchen Patientengruppen Cannabis in welcher Dosis und welcher Form helfen kann. Nötig seien belastbare und öffentliche finanzierte Studien, betonte Glaeske.
Nach Erfahrung des Leitenden Oberarztes der Klinik für Anästhesiologie an der Charité, Prof. Michael Schäfer, sind es einzelne Patienten mit komplexen Krankheitsbildern, bei denen Cannabis anspricht, nachdem andere Therapien versagten. Nebenwirkungen, die zum Abbruch führen könnten, seien etwa Halluzinationen. Insgesamt seien die Nebenwirkungen – etwa Müdigkeit und Schwindel – angesichts zunächst geringer Dosierungen maßvoll, sagte Glaeske.
Regionale Unterschiede: Südwesten an der Spitze
Erhebliche Probleme sieht er insbesondere bei der Therapie mit Cannabisblüten, deren Wirkstoffgehalte schwankten und die umständlich verdampft und mit einer Maske eingeatmet werden müssten – das sei ein „Rückfall in vorindustrielle Zeit”. Die vergleichsweise teuren Blüten gehören dem Report zufolge nach einem Öl mit teilsynthetischem THC inzwischen zu den gängigsten Formen. Cannabis wird bislang aus dem Ausland importiert, Deutschland plant aber auch den Anbau.
Seit März 2017 ist es gesetzlich möglich, dass Patienten im Einzelfall Cannabis auf Rezept bekommen. Zuvor brauchten Patienten Ausnahmegenehmigungen. Nun müssen Ärzte die Wahl einer Cannabis-Therapie umfangreich begründen. Einige Experten zeigten sich von Beginn an skeptisch und warten davor, Schwerkranken falsche Hoffnungen zu machen.
Der TK-Report zeigt nun auch regionale Unterschiede auf: Mehr als ein Jahr nach der Freigabe lassen sich vor allem in Baden-Württemberg viele Patienten medizinisches Cannabis verschreiben. Nach Angaben vom Donnerstag kommen auf 100.000 Versicherte 152 Cannabis-Verordnungen. Nur im Saarland (209) und in Bayern (156) seien es mehr.
Quelle: dpa