Praxis WissenKnifflige Diagnose

Ellenbogengelenk angeschwollen, gerötet, überwärmt. Starke Schmerzen. Die Symptome der Vietnamesin lassen zunächst an eine rheumatoide Arthritis denken. Doch Migranten kommen teils mit sehr seltenen Erkrankungen in die Sprechstunde, wissen die Ärzte der Malteser Migranten Medizin Hannover (MMM). Eine besondere Herausforderung sind Patienten mit einem illegalen Aufenthaltsstatus in Deutschland, wie der folgende Fall zeigt. 2015 machte diese Gruppe rund 42 Prozent der Patienten der Ambulanz der MMM in Hannover aus.

Kasuistik

Anamnese/Diagnostik /Therapie (ambulant):

Mai 2011: Vietnamesin, spricht keine europäische Sprache, stellt sich erstmals mit Schmerzen im rechten Ellen­bogengelenk vor (lateral leicht geschwollen, gering gerötet, überwärmt). Epicondylitis hu­meroradialis ausgeschlossen. Mit Verdacht auf eine Mono­arthritis behandeln wir mit Diclofenac und Kortison – die Schmerzen bessern sich; PPI gegen auftretende Magenpro­ bleme. Zu Kontrollterminen erscheint die Patientin nicht.

August 2011: Exazerbation der Schmerzen und Schwellung im rechten Ellenbogengelenk. Die erneute Therapie akzeptiert die Patientin nur bedingt, da sie nicht versteht, dass sie die Medikamente regelmäßig über einen längeren Zeitraum einnehmen muss. Sobald die Beschwerden erträglich werden, setzt sie die Medikamen­te ab. Konsiliarische Vorstel­lung bei niedergelassenem Kollegen soll die Diagnose si­chern. Ergusspunktion des Ge­lenks erbringt eine punctio sicca. Er rät, die Therapie mit NSAR und Steroiden fortzusetzen. Diagnose: rheumatoide Arthritis.

Bis Oktober kommt die Patientin regelmäßig in die Sprechstunde. Gelenkumfang, Rötung und Schmerzen neh­men ab. Aber: Sie reduziert selbst zeitweise die Medika­mente oder setzt diese aus. Ab November erscheint die Pati­entin aus unerklärlichen Grün­den nicht mehr. Für uns bleibt nur festzustellen, dass ihre Mentalität und Lebensumstän­de kein dem üblichen Stan­dard entsprechendes Vorge­hen zulassen.

April 2012: Patientin hat persistierend zunehmende Beschwerden im rechten Ellenbogengelenk. Hoher Lei­densdruck anzumerken, den eine als Übersetzerin fungie­rende Freundin bestätigt. Befund: Schwellung dehnt sich bis auf distalen Unterarm aus, Rötung und Überwärmung deutlich zugenommen, Bewe­gung schmerzhaft behindert. Mithilfe der Freundin gelingt es, einen niedergelassenen Rheumatologen hinzu zu zie­hen. Punktionsergebnis: spärlich Granulozyten, keine Bakterien. Mit ihm vereinbarte Kontrolltermine nimmt Patien­tin nicht wahr.

Trotz intensiver Bemühungen und großem Zeitaufwand lässt die Mal­Compliance der Pa­tientin diverse antirheuma­tische Therapieoptionen schei­tern: nimmt Tabletten nicht regelmäßig, manche Therapie­ konzepte nach wenigen Tagen abgebrochen – wohl auch des­ wegen, weil sie die Aufklärung über Nutzen und Nebenwirkungen nicht versteht.

Allerdings ist Vertrauen so­weit aufgebaut, dass sich die Patientin bis 2014 immer wie­ der sporadisch vorstellt. Eine zwischenzeitlich aufgetretene, therapiebedürftige Hypertonie können wir sogar erfolgreich medikamentös einstellen.

April 2014: schwere Herpes­zoster ­Infektion auf das Dermatom Th 10 rechts bezogen. Eine stationäre Behandlung lehnt die Patientin ab. Nach­dem die Infektion geheilt ist, treten die Beschwerden des rechten Arms wieder in den Fokus. Überweisung in Am­bulanz einer Spezialklinik mit rheumatologischem Schwerpunkt. Leider keine Be­handlung, da das Personal beabsichtigt, die Polizei einzu­schalten.

Frühjahr 2015: Krankheits­bild dramatisch verschlechtert: stark reduzierter Allgemein­zustand, Fieber, kein Nachtschweiß. Rechtes Ellenbogen­gelenk Bewegung hochgradig eingeschränkt, Hypästhesie an der ulnaren Handseite, mehre­re kleine Ulcerationen können am massiv geschwollenen, geröteten Unterarm objektiviert werden. Unerträgliche Schmerzen. Keine pathologischen Veränderungen an übrigen Gelenken. Verdacht: septische Kubitalarthritis.

Patientin versteht, dass sie wegen der ausgeprägten Entzündung mit drohenden Komplikationen stationär eingewiesen werden muss. Telefonisch versichert uns die Klinik vorab, dass die Polizei nicht informiert wird.

Stationäre Diagnostik: Befund: Umfangsvermehrung des rechten Ellenbogengelenks; schmerzhafte Bewegungseinschränkung; Taubheitsgefühl des 5. Digitus rechts, im Bereich des distalen Unterarms links, des Unterarms rechts. Perforierende Hauteffloreszenzen am Hals rechts und periartikulär des rechten Ellenbogengelenks.

Punktion des rechten Ellenbogen­ gelenks: wieder punctio sicca. Radiologisch: partielle arthritische Destruktion des distalen Humerus, des Radiusköpfchens und des Olecranons sowie Weichteilverkalkungen im Bereich des proximalen Unterarms. Im Direktpräparat der periartikulären Hautulcerationen lassen sich M. tuberkulosis nachweisen. In den superinfizierten Hautläsionen werden allerdings Staph. aureus (MSSA) nachgewiesen. Es sind keine Fistelgänge von den Hautläsionen zum destruierten Gelenk darstellbar. Durch vermehrte Sputumproben wie auch radiologisch ist eine Lungen­ Tbc auszuschließen.

Therapie: Mithilfe einer Übersetzerin ist zu erfahren, dass bei der Patientin seit Jahren immer wieder Hautveränderungen im Gesicht, am Hals und linken Arm auftreten. Da säurefeste Bakterien im Direktpräparat gesehen werden, muss differentialdiagnostisch auch an eine Nocardi­ ose gedacht werden (s. Kasten S. 36). Die Staph. aureus-Superinfektion bedarf einer Antibiose mit Clindamycin 600 mg (3 × 1) und Flucloxacillin 1 g (3 × 1) gemäß spezifischem Resistogramm. Im Entlassungsbericht zieht die Spezialklinik auch ein sweet ­Syndrom differentialdiagnostisch in Erwägung (siehe Kasten S. 37).

Kommentar

Bei unserer Patientin könnte es sich sowohl um eine idiopathische Form (Infekt), eine medikamenteninduzierte Form (Diclofenac) und vielleicht sogar auch um eine malignomassoziierte Form (Herpes zoster) des sweet-Syndroms handeln. Da sie in Vietnam nicht adäquat versorgt werden kann, gelang es unserer Sozialarbeiterin, eine Aufenthaltserlaubnis zu erwirken. Die Kosten der Therapie trägt das Sozialamt. Deswegen wird die Patientin zurzeit ambulant in fachärztlichen Praxen behandelt, so dass wir über den weiteren Verlauf leider nicht berichten können. Dass bis zur Diagnosestellung vier Jahre verstrichen sind, ist nicht optimal. Aber das Vorgehen in einer MMM-Sprechstunde kann nicht mit einer Behandlung in einer deutschen, allgemeinärztlichen Praxis gleich gestellt werden.

Unsere personelle Besetzung, deren außerordentliches Engagement wie auch unsere diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten sind zwar optimal, unsere Patienten entsprechen jedoch nicht den bekannten, herkömmlichen Normen. Ihre Lebensumstände, Biographie, Mentalität, Religion und Ängste schränken oft die Compliance ein. Viel Geduld, Ausdauer und Toleranz sind nötig, um das Vertrauen zu gewinnen. Es wäre falsch, die Mal-Compliance als beabsichtigt zu interpretieren.

Nicht zu unterschätzen ist die Sprachbarriere. Übersetzer stehen nicht immer zur Verfügung. Das erschwert gleich zu Beginn die Anamnese. Das weitere Vorgehen, Aufklärung über Dauer und Nebenwirkungen einer Therapie sind oft schwer zu vermitteln. So kommt es zu erheblichen Verzögerungen und hohen Abbruchraten. Dabei spielen auch hohe Erwartungen und falsche Vorstellungen eine wichtige Rolle.

Die MMM-Sprechstunde stellt uns immer wieder vor neue fachliche und menschliche Herausforderungen, sodass die Arbeit dort stets eine interessante und vielseitige Tätigkeit umfasst.

Tuberkulose

Am häufigsten sind tuberkulöse Erkrankungen in der Lunge lokalisiert. Seit einigen Jahren steigt der Anteil der extrapulmonalen Tbc. Meist sind Arme, Hunger Leidende ohne festen Wohnsitz betroffen. Weltweit zählt Tbc zu den gefährlichsten Infektionskrankheiten und gehört zu den meldepflichtigen Erkrankungen. Besonders hohe Inzidenzraten finden sich im Süden Afrikas, China, Indien, Pakistan und Indonesien. Die medikamentöse Therapie ist bis auf sehr wenige Ausnahmen im Prinzip für jede Form der Erkrankung und jedes Organsystem identisch. In Deutschland sollte auch eine Untersuchung auf HIV angeboten werden, da die Koinfektionsrate bei Tbc-Patienten auf ca. drei Prozent geschätzt wird [3,7].

Nocardiose

Die Nocardiose ist eine seltene Erkrankung, die von stäbchenförmigen, grampositiven Bakterien verursacht wird. Sie kommen ubiquitär im Erdboden und in Feuchtbiotopen vor, befallen gehäuft Erwachsene mittleren Alters. In der Regel ist bei diesen Menschen das Immunsystem geschwächt. Bei 80 Prozent der Fälle betrifft die Störung die Lunge. Andere Körperbereiche wie Haut, Magen-Darmtrakt und Gehirn können ebenfalls betroffen sein. Die Symptome einer superfiziellen Nocardiose – also einer Hautaffektion – sind: offene, nässende Wunden, Ausschlag, manchmal Abszesse und geschwollene Lymphknoten. Eine Übertragung von Mensch zu Mensch findet nicht statt. Bei Landarbeitern sind superfizielle Nocardiosen in einigen Ländern als Berufskrankheit anerkannt [1,4].

Therapie: Soweit verträglich sechs Monate Gabe von Minocyclin 100 mg (2×1) [1]. Initialphase der tuberkulostatischen Behandlung: vierfache, leitliniengerechte Therapie für mindestens zwei Monate mit Isonazid 300 mg (1×1), Rifampicin 300mg (0-0-2), Myambutol 400 mg (3-0-0) und Pyrafat 500 mg (0-2-0). Folgende Kontinuitätsphase: zweifache Medikation über sieben Monate (INH und Rifampicin) [7].

sweet-Syndrom

Das sweet ­Syndrom, eine akute febrile neutrophile Dermatose, ist eine seltene Erkrankung, kommt meistens bei Frauen zwischen 30 und 50 Jahren vor und befällt hauptsächlich Gesicht und Extremitäten. Unterschieden werden eine idiopathische, malignomassoziierte und medi­kamenteninduzierte Form. Die Pathogenese ist noch nicht geklärt; vermutet wird, dass Cytokine eine wesentliche Rolle spielen. Der Krankheitsbeginn setzt plötzlich mit hohem Fieber ein, dermatolo­gisch treten Papeln, Pusteln und Plaques auf, la­ borchemisch zeigen sich im Blutbild neutrophile Leukozyten und eine deutliche Erhöhung der BKS. Neben Dermatosen werden auch Arthralgien beobachtet, innere Organe können ebenfalls befal­len sein [2;5;6].

Bei der idiopathischen Form entwickeln sich die Symptome nach einer längeren viralen oder bakteriellen Infektion (besonders im Re­spirationstrakt) wie auch im Rahmen von chronischen Erkrankungen (z. B. rheumatischer Formenkreis) [2;5;6].

Bei malignomassoziiertem sweet ­Syndrom können die Symptome vor der Diagnosestellung einer Neoplasie auftreten und es bilden sich oft auch bul­löse Hautveränderungen [2;5;6].

Bei medikamenteninduziertem sweet ­Syndrom werden die Veränderungen nach Verabfolgung von Antibiotika (z. B. Norfloxacin), Diuretika (z. B. Furo­semid) und NSAR (z.B. Diclofenac) gesehen. Sogar Impfungen und Insektenstiche können die oben genannten Krankheitssymptome auslösen [2]. Therapeutisch empfiehlt sich die Gabe von Kortison, gefolgt von Kaliumjo­did und Immunsuppressiva. Allerdings sollte die auslösende Erkrankung im­mer zuerst therapiert werden. Spontane Heilungen sind möglich, Rezidive kommen mit und ohne Behandlung vor [2;5;6].

Therapie: Soweit verträglich sechs Monate Gabe von Minocyclin 100 mg (2×1) [1]. Initialphase der tuberkulostatischen Behandlung: vierfache, leitliniengerechte Therapie für mindestens zwei Monate mit Isonazid 300 mg (1×1), Rifampicin 300mg (0­0­ 2), Myambutol 400 mg (3­0­0) und Pyrafat 500 mg (0­ 2­0). Folgende Kontinuitätsphase: zweifache Medikation über sieben Monate (INH und Rifampicin) [7].

Malteser Migranten Medizin

In der Malteser Migranten Medizin (MMM) finden Menschen ohne Krankenversicherung einen ehrenamtlichen Arzt, der die Erst- und Notfallversorgung bei plötzlicher Erkrankung, Verletzung oder einer Schwangerschaft übernimmt. Die Patienten verfügen entweder über keinen legalen Aufenthaltsstatus und wollen anonym bleiben oder sind aus anderen Gründen nicht (mehr) versichert. Bundesweit gibt es die MMM in 14 Städten, seit 2007 auch eine MMM-Ambulanz in Hannover.

In 2015 behandelten dort fünf Ärztinnen und Ärzte dienstags zwischen 10 und 12 Uhr 630 Patienten, die durchschnittlich 2,2 Mal die Sprechstunde aufsuchten. Die Praxis verfügt über ein EKG-, Ultraschallgerät und eine umfangreiche Labordiagnostik. Für die erweiterte Diagnostik oder größere Eingriffe kann das MMM-Team auf ein bewährtes Netz von niedergelassenen Fachärzten und Kliniken bauen. Die Arbeit wird nur aus Spenden finanziert.

Spendenkonto: Malteser Hilfsdienst e.V.Pax Bank, IBAN: DE10370601201201200012, BIC / S.W.I.F.T: GENODED1PA7, Stichwort: „Migranten Medizin MMM“, www.malteser-migranten-medizin.de

Literatur

  • 1 Arzt G. H., Gsell O., Hartung M., Klütsch K., Krech U., Modde H., Salfelder K., Seeliger H. P. R., Sonnabend W., Wegmann T.; Mykosen Aktinomykosen und Nocardiosen Pneumokokken- und Klebsiellenerkrankungen, Springer, Volume 3, Seiten 221-247

  • 2 Cohen Ph. R., Sweet’s syndrome – a comprehensive review of an acute febrile neutrophilic dermatosis, Orphanet J Rare Dis. 2007; 2: 34.

  • 3 Hahn H., Kaufmann S. H.E., Schulz Th. F, Sauerbaum S. ; Medizinsche Mikrobiologie und Infektiologie Springer, 6. Auflage, Seiten 355-365

  • 4 Hahn H., Kaufmann S. H.E., Schulz Th. F, Sauerbaum S. ; Medizinsche Mikrobiologie und Infektiologie Springer, 6. Auflage Seiten 370-372

  • 5 Kaufmann J., Hein G., Graefe T. Stein G., Seltene Assoziation einer akuten febrilen neutrophilen Dermatose (Sweet-Syndrom) mit Rheumatoider Arthritis, Zeitschrift für Rheumatologie, Volume 60, Issue 4 , Steinkopff Verlag, Seiten 263-269

  • 6 Kempf W., Hantschke M., Kutzner H., Burgdorf W. Dermatopathologie, Springer 3. Auflage, Seite 110

  • 7 Schaberg T., Therapie der Tuberkulose, Der Internist 2015/12, Springer-Verlag Berlin, Seiten 1379-1386

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