Düsseldorf. Drei Immunisierungen in den ersten zwei Lebensjahren, eine Auffrischungsimpfung im Jugendalter – dieser grundlegende Schutz vor Polio sollte in Deutschland selbstverständlich sein. „Ganz unabhängig von eventuellen Reiseplänen sollten diese vier Impfungen immer wahrgenommen werden“, wird Professor Tomas Jelinek, wissenschaftlicher Leiter des CRM Centrum für Reisemedizin, in einer Mitteilung des Centrums zitiert.
Denn wie sich bei den aktuellen Ausbrüchen in London, New York und Jerusalem zeige, könne es überall und zu jedem Zeitpunkt zu einem Viruseintrag von außen kommen. „Die in den drei Städten nachgewiesenen Viren sind genetisch identisch, haben sich also mit Reisenden um den Globus bewegt“, so Jelinek.
Infektionen bleiben meist unbemerkt
In New York hatte im Juni ein 20-jähriger, ungeimpfter Mann infolge einer Polio-Infektion Lähmungen an den Beinen entwickelt, in Jerusalem ist ein ebenfalls ungeimpftes Kleinkind von Lähmungen betroffen. In London ist zwar noch kein symptomatischer Fall bekannt geworden, seit Juni werden jedoch Polioviren im Abwasser der Stadt nachgewiesen – ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Virus in der Bevölkerung zirkuliert (“Der Hausarzt” berichtete).
Auch in New York fiel das Virus bereits im Juni bei der routinemäßigen Kontrolle des Abwassers auf, und zwar nicht nur am Wohnort des betroffenen jungen Mannes im Rockland County, sondern auch in mehreren anderen Counties, darunter New York City. Die Gouverneurin von New York rief daher den bundesstaatweiten Katastrophenfall aus.
Was angesichts eines einzigen Betroffenen zunächst wie eine Überreaktion erscheint, hat durchaus einen ernsten Hintergrund. Denn längst nicht jede Infektion mit dem Poliovirus geht mit Krankheitssymptomen einher, die meisten bleiben unbemerkt.
US-Behörden rufen zur Impfung auf
„Zu Lähmungen kommt es nur bei rund einem von zweihundert Infizierten“, berichtet Jelinek. Diese symptomatischen Fälle seien quasi die Spitze des Eisbergs: Sobald man Patienten mit Lähmungen sehe, sei bereits von einer breiten Zirkulation der Viren in der Bevölkerung auszugehen.
Hinzu komme, dass viele Menschen in New York nicht oder nicht vollständig gegen Polio geimpft seien. Landesweit liegt die Polio-Impfquote unter 80 Prozent, in einigen Counties verfügt sogar nur etwas mehr als die Hälfte der Einwohner über einen Impfschutz. Daher rufen die Behörden nun dringend zur Polio-Impfung auf.
Rückgang der Poliofälle um 99,9 Prozent
Polioviren vom Wildtyp waren vor Einführung der Impfung weltweit verbreitet. Durch den breiten Einsatz der Polioimpfung konnte das Virus jedoch so stark zurückgedrängt werden, dass sogar seine Ausrottung in greifbare Nähe rückte. Die von der WHO 1988 gegründete Globale-Polio-Eradikations-Initiative (GPEI) hatte sich dieses Ziel bereits für das Jahr 2000 gesteckt.
„Obwohl die Zahl der Poliofälle im Vergleich zu den 1980er-Jahren weltweit um 99,9 Prozent gesunken ist, konnte eine vollständige Ausrottung bislang noch nicht erreicht werden“, sagt Jelinek. Dennoch seien durch das Programm bis heute rund 20 Millionen Menschen vor bleibenden Lähmungen, mehr als 1,5 Millionen vor dem Tod bewahrt worden.
Bei schweren Verläufen auch Lähmungen und Tod möglich
Um diesen Erfolg nicht zu gefährden, seien auch heute noch flächendeckende Impfungen notwendig, betont Jelinek – nicht nur in bekannten Endemiegebieten, sondern weltweit. „Wie die aktuellen Ausbrüche zeigen, kann das Virus auch in aktuell poliofreie Gebiete immer wieder neu eingetragen werden, solange es nicht vollständig ausgerottet ist.“
Ein solcher Viruseintrag bleibe bei einer vollständig geimpften Bevölkerung folgenlos; ein unzureichender Impfschutz biete dem Virus jedoch die Chance, sich erneut auszubreiten.
Eine Polioinfektion verläuft in den allermeisten Fällen (90 bis 95 Prozent) asymptomatisch, weitere vier bis acht Prozent der Infizierten entwickeln lediglich grippeähnliche Symptome. In seltenen Fällen kann die Infektion jedoch auf das ZNS übergreifen und zu akuten, auch bleibenden Lähmungen führen. Diese betreffen meistens die Beine, seltener die Arme, es kann jedoch auch zu – dann oft tödlich verlaufenden – Atemlähmungen kommen. Eine gegen das Poliovirus wirksame Therapie gibt es nicht.
red