FlutkatastropheDie Nacht, die alles veränderte

Es war die Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021, die weite Teile von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen für immer verändert hat. Ein halbes Jahr ist inzwischen vergangen. Ein persönlicher Bericht darüber, wie es heute dort aussieht. Was hat die Flut mit den Menschen gemacht und wie war und ist die hausärztliche Versorgung vor Ort sechs Monate danach?

Das Ahrtal mit seinen Weinbergen und Wanderwegen war bei Touristen ein beliebtes Ziel. Die Zerstörung durch die Flut war immens, der Wiederaufbau wird noch lange dauern, denn auch mehr als sechs Monate nach der Flutkatastrophe warten viele Flutopfer noch immer auf zugesagte Hilfsgelder.

Es gab Warnungen vor Starkregen an diesem Tag. Doch niemand hat mit einem solchen Ausmaß an Wassermassen, die in der Nacht im Juli 2021 vom Himmel kamen, gerechnet. Als Hausarzt Dr. Klaus Korte aus Ahrbrück am nächsten Morgen sein etwas erhöht liegendes Haus verließ, um zu sehen, was das Wasser in seiner Praxis angerichtet hat, ahnte er noch nicht, was er an diesem Tag und in den folgenden Monaten erleben würde.

Seine Praxisräume sind unbrauchbar, er praktiziert derzeit aus einem Provisorium heraus weiter oben im Haus. Und wenn man Korte fragt, sagt er, er gehöre zu den Personen, denen nichts passiert sei.

Um diese Aussage zu verstehen, muss man den Hausarzt nur über sein Praxisteam erzählen lassen. Sein Praxiskollege, dessen Haus von den Fluten weggerissen wurde, wurde nach 11 Stunden aus einem Baum gerettet, an den er sich mit seinem kleinen Sohn klammerte. Seine Frau und seine Tochter haben die Flutnacht an der Ahr nicht überlebt.

Drei von Kortes Medizinischen Fachangestellten wurden in dieser Nacht obdachlos. Bilder von Autos, die vorbeitreiben und die für ihre Besitzer zu Todesfallen wurden und denen man nicht helfen konnte, haben sich eingebrannt.

Die Schilderungen erinnern an Aufnahmen, wie man sie vom Tsunami 2004 in Südostasien kennt, nur war die Katastrophe diesmal nicht am anderen Ende der Welt, sondern direkt vor unserer Haustür.

Ganze Gebäude zerbrachen

80 Kilometer nördlich wurde in dieser Julinacht aus dem kleinen Flüsschen Leppe in Engelskirchen ein Strom, der eine ganze Hausecke der Praxis von Dr. Thomas Assmann wegriss und weite Teile der Nachbarschaft, in der auch ein Pflegedienst, eine Radiologiepraxis und eine für Kinder- und Jugendpsychiatrie lag, schwer getroffen hat.

Aßmann hatte gerade erst das Gebäude verlassen, nachdem er gemeinsam mit dem Hausbesitzer nach dem Rechten gesehen hatte, als die Gebäudeteile wegbrachen.

Die beiden Hausärzte sind kein Einzelfall. In Rheinland-Pfalz hat die Flut 35 Arztpraxen zerstört oder so stark beschädigt, dass sie komplett funktionsunfähig waren, in Nordrhein 15. Noch nicht mitgezählt sind hier die, die nur sehr eingeschränkt arbeiten konnten, alleine in Nordrhein betraf das rund 130 Praxen.

Die meisten haben, hier wie dort, provisorisch ihre Sprechstunden aufrechterhalten: im Privathaus, in der Garage, im Container, unterm Dach. Klaus Korte hat in den ersten sechs Wochen nach der Flut eine provisorische Notfallpraxis in einer Schule betrieben. Das Leid, was er seitdem gesehen hat, sei “unendlich”, so Korte.

Zusammenhalt war und ist groß

Das Haus, in dem sich Klaus Kortes Praxis in Ahrbrück befindet, hat den Fluten standgehalten, dennoch sind die Praxisräume auf Monate unbrauchbar. Wassermassen und ein aufgeplatzter Heizöltank sind in Wände und Böden gezogen.

Deshalb praktiziert er auch heute, sechs Monate nach der Katastrophe, noch in drei Räumen mit geliehenen Büromöbeln, zwei Stockwerke über seiner alten Praxis. Die Etage teilt er sich mit einem Elektrotechniker. Man sei zusammengerückt nach der Katastrophe, wie überall im Ahrtal.

Die Praxisräume im Erdgeschoß sind inzwischen entkernt, gleichen aber noch einem Rohbau. Der Bauantrag hängt irgendwo in den Fängen der deutschen Bürokratie fest, wie bei so vielen Menschen in den betroffenen Gebieten.

Aufhören oder weitermachen?

Das Gebäude, das die Zweigpraxis von Thomas Aßmann in Engelskirchen beherbergte, ist inzwischen komplett abgerissen. Nur die Bodenplatte erinnert noch an die einst moderne Praxis im Oberbergischen. Und doch gibt es hier schon Pläne für einen baldigen Wiederaufbau.

Entstehen soll hier ein modernes Hausarztzentrum, das den Anforderungen der Zukunft angepasst ist. Drei bis fünf Hausärztinnen und Hausärzte pro Praxis, flexible Arbeitszeitenmodelle, standardisierte Prozesse und telemedizinische Betreuung, alle diese Komponenten fließen konkret schon in die Planung des Neubaus ein.

Die Idee dazu hatte Aßmann schon lange im Kopf, die Flut habe die Umsetzung jetzt allerdings erheblich beschleunigt. Er hatte das Glück, die richtige Versicherung zu haben, die nicht nur schnell geholfen hat, sondern vor allem auch das Neubauprojekt an gleicher Stelle wieder versichern wird, so Aßmann.

Auch der Besitzer des Grundstücks, ein Architekt, stellt sich gemeinsam mit ihm der Herausforderung eines Neuanfangs. Ende des Jahres soll alles fertig sein. Bis dahin läuft seine Praxis in Lindlar weiter, die Patienten aus Engelskirchen müssen zwar weitere Wege zu ihrem Hausarzt auf sich nehmen, aber nicht auf ihn verzichten.

Und doch, so der 58jährige Aßmann, stelle man sich im ersten Moment nach so einer Katastrophe die Frage “Höre ich an dieser Stelle hier auf oder fange ich noch mal von vorne an?”. Er könne jeden Kollegen verstehen, dem die Kraft dazu fehle, für ihn selbst war nach kurzem Überlegen Aufgeben aber keine Option.

Dazu sind seine Visionen von einer “Hausarztpraxis 2030” zu konkret, sie treiben ihn an, um die hausärztliche Versorgung vor Ort auch langfristig für die Bevölkerung zu erhalten.

Im Ahrtal hat nicht jeder Hausarzt die Kraft gefunden, einen kompletten Neuanfang zu wagen. Ein Kollege aus dem Nachbarort von Klaus Korte hat angesichts seines Alters entschieden, die letzten Jahre bis zur Rente angestellt weiterzuarbeiten. Ein Wiederaufbau kam für ihn nicht in Frage. Seine rund 1.000 Patienten versorgen Korte und seine verbleibenden Kollegen nun mit, auch wenn die Kapazitäten längst erreicht sind.

Patienten mit anderen Problemen

Das betrifft nicht nur die räumlichen, zeitlichen und persönlichen Belastungsgrenzen. Die Probleme, mit denen Patienten heute in die Praxis von Klaus Korte kommen, sind andere als vor der Flut. Grippaler Infekt, Blutdruck, die alltäglichen Erkrankungen der Patienten, spielen heute keine große Rolle mehr. “Ich habe keine einfachen Patienten mehr, viele Traumatisierte kommen erst jetzt in die Praxis.”

Auch totale Erschöpfung ist derzeit eine häufige Diagnose. Es ist Alltag geworden, dass Patienten sich ihrem Hausarzt anvertrauen und dabei in Tränen ausbrechen. Alltag, aber nicht alltäglich.

Die traurigsten Fälle sind für Korte, der bereits seit 20 Jahren als Hausarzt praktiziert, die Sterbefälle in diesen Tagen. Alte oder schwer erkrankte Patienten, die am Ende ihres Lebens alles verloren haben und nun in Ferienwohnungen auf wenigen Quadratmetern von ihm beim Sterben begleitet werden, das sei bitter.

Und natürlich nehme man das mit nach Hause. “Wir haben ja auch keine Superkräfte,” sagt Korte und man spürt, dass er sich genau diese gerade wünschen würde, um noch mehr tun zu können.

Hilfe immer noch benötigt

Neben diesen Folgen drücken viele Ärztinnen und Ärzte in den betroffenen Gebieten immer noch finanzielle Sorgen. Unbürokratische finanzielle Unterstützung kam direkt von den Kassenärztlichen Vereinigungen, den Landesärztekammern und der apobank, an deren Spendenaktion sich seinerzeit u.a. auch die Hausärzteverbände und der medizin+medien-Verlag beteiligt haben.

So konnten Hunderttausende Euro Soforthilfe geleistet werden, um Existenzen und die medizinische Versorgung in den betroffenen Gebieten zu sichern. Die von Bund und Ländern zugesicherten Hilfen hängen vermutlich bis heute neben den zahllosen Bauanträgen im Netz der Bürokratie fest.

Das ist aber nur ein Grund, warum die Folgen für alle in den von der Jahrhundertflut betroffenen Gebieten noch lange spürbar bleiben werden, für den Wiederaufbau fehlt es derzeit vor allem an Handwerkern vor Ort. Aber auch, wenn irgendwann die sichtbaren Wunden verschwinden, ganz heilen werden die seelischen Narben der Menschen wohl nie – und das wird auch in den Hausarztpraxen immer spürbar bleiben.

Quellen: Zahlen für Rheinland-Pfalz: https://hausarzt.link/Qu861 und für Nordrhein: https://hausarzt.link/6B38v

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