Es ist 5 Uhr morgens, wir befinden uns auf Position 14° 05,1`N; 037° 06,5`W; rund 510 Seemeilen westlich der Cap Verden und 1.430 Seemeilen östlich von Barbados. Den sogenannten “Point of no return” haben wir in dieser Nacht überschritten: Nun dauert es genauso lange, mit dem Passatwind nach Westen zu segeln wie gegen den Wind mit Motorhilfe anzukämpfen. Die nächsten neun Tage ist die Mannschaft des Toppsegelschoners Thor Heyerdahl komplett auf sich selbst gestellt.
“Klassenzimmer unter Segeln” heißt das Projekt der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (s. Kasten). Es umfasst 34 Schüler der zehnten Klasse, überwiegend aus Bayern, fünf Lehrer, sieben Mitglieder der Stammmannschaft, einen Maschinisten, einen Steuermann, den Kapitän und mich als Bordarzt. Das Schiff ist quasi eine bayerische Schule, die von Mitte Oktober 2019 bis zum Reise-Stopp durch die Corona-Pandemie von Kiel aus in die Karibik und wieder zurück gesegelt ist.
“Hausarztpraxis” auf See
Die Zeit war für mich günstig, eine Auszeit zu nehmen. Meine Frau hielt die Stellung in unserer Gemeinschaftspraxis, zusammen mit einer angestellten Ärztin, zwei Ärzten in Weiterbildung und natürlich meinen perfekt ausgebildeten Medizinischen Fachangestellten (MFA). So konnte ich mich seit Mitte November – mit Zustieg auf Teneriffa – um alle medizinischen Belange der Besatzung kümmern.
Diese bestehen meist aus kleineren Verletzungen, Verbrühungen, Verbrennungen und den üblichen Beratungsanlässen einer allgemeinärztlichen Praxis wie Sinusitis, Bronchitis oder fieberhaften Infekten. Eine vermutlich beginnende Pneumonie bessert sich rasch auf Amoxicillin.
Der aufwendigste Fall ist ein nächtlicher Treppensturz auf dem schwankenden Schiff mit Schädelprellung und linksseitiger Thoraxprellung. Nach einem Tag treten nach einer Bewegung starke linksseitige Oberbauchschmerzen auf, sodass ich an eine zweizeitige Milzruptur denken muss. Dank der sehr guten Ausstattung an Bord können wir die Patientin unter intensiver Überwachung zurück auf die Cap Verden bringen, die wir am Tag zuvor passiert haben. Im dortigen Krankenhaus kann ich sonographisch eine Milzruptur oder freie Flüssigkeiten im Bauch ausschließen.
Infektionen stets im Blick
Da auf dem Schiff 50 Menschen auf sehr beengten Verhältnissen leben, liegt mein zweites Augenmerk darin, ansteckende Erkrankungen frühzeitig einzudämmen. Mein Aufenthalt auf dem Schiff war vor Beginn der Corona-Pandemie – mein “schlimmster” Fall einer Infektionskrankheit ist eine Impetigo contagiosa, die ich konsequent mit Fucidine und Hygiene behandelt habe. Unterstützt wurde ich stets von dem Wachführer Tristan, einem Medizinstudenten aus dem zehnten Semester, dessen Vater ebenfalls Allgemeinarzt war.
“Hand gegen Koje” heißt das Prinzip für die erwachsenen Mitreisenden. Sprich: Ich bekomme keine Bezahlung, aber das Abenteuer einer Atlantiküberquerung. So lege ich Hand an beim Segeln, klettere bei schwankendem Boot rauf ins Rigg bis zur Mastspitze in 29 Metern Höhe und bin zu festen Wachen zwischen jeweils 5 und 8 Uhr morgens und abends eingeteilt.
Für die Schüler gebe ich ein wöchentliches Wahlfach Medizin, erfreue mich aber auch über eine Teilnahme am regulären Unterricht in Bio, Physik und Deutsch. Spannend sind die Naturbeobachtungen wie Delphine, Wale und Seevögel, aber auch das Hochseeangeln. Vier große Fische konnte ich an Bord ziehen. Diese Auszeit ist für mich wie eine Kur, die ich mir mal verordnet habe.
Mein Fazit: Wer gesund und sportlich ist, gerne mit jungen Menschen zusammenarbeitet und eine spannende, entschleunigte Reise unternehmen möchte, der sollte auf der Thor Heyerdahl anheuern. Alle anderen sollten das Kreuzfahrtschiff nehmen.