Karlsruhe/Berlin. Der Bundestag muss “unverzüglich” Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall einer sogenannten Triage treffen. Das Bundesverfassungsgericht teilte am Dienstag (28.12.) in Karlsruhe mit, aus dem Schutzauftrag wegen des Risikos für das höchstrangige Rechtsgut Leben folge eine Handlungspflicht für den Gesetzgeber. Diese habe er verletzt, weil er keine entsprechenden Vorkehrungen getroffen habe.
Er müsse dieser Pflicht in Pandemiezeiten nachkommen. Bei der konkreten Ausgestaltung habe er Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum (Az. 1 BvR 1541/20). Neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen haben Verfassungsbeschwerde eingereicht. Sie befürchten, von Ärzten aufgegeben zu werden, wenn keine Vorgaben existieren. Das höchste deutsche Gericht gab ihnen nun Recht.
Divi-Empfehlung rechtlich nicht verbindlich
Niemand dürfe wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt werden. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) hat mit anderen Fachgesellschaften “Klinisch-ethische Empfehlungen” erarbeitet. Die Klägerinnen und Kläger sehen die dort genannten Kriterien mit Sorge, weil auch die Gebrechlichkeit des Patienten und zusätzlich bestehende Krankheiten eine Rolle spielen. Sie befürchten, aufgrund ihrer statistisch schlechteren Überlebenschancen immer das Nachsehen zu haben.
Das Verfassungsgericht erläuterte, die Empfehlungen der Divi seien rechtlich nicht verbindlich und “kein Synonym für den medizinischen Standard im Fachrecht”. Zudem weist es auf die möglichen Risiken bei der Beurteilung hin, die sich aus den Empfehlungen ergeben könnten. Es müsse sichergestellt sein, “dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird”.
Gesetzgeber hat Spielraum
Der Gesetzgeber habe mehrere Möglichkeiten, dem Risiko einer Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Ressourcen wirkungsvoll zu begegnen, befand das Gericht. Als Beispiel wurden Vorgaben für ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen genannt oder Regelungen zur Unterstützung vor Ort.
“Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, welche Maßnahmen zweckdienlich sind”, hieß es in der Mitteilung. Die Verfassungsbeschwerde ist schon seit Mitte 2020 in Karlsruhe anhängig. Damit verbunden war auch ein Eilantrag – den die Richterinnen und Richter des zuständigen Ersten Senats unter Gerichtspräsident Stephan Harbarth allerdings abgewiesen hatten. Sie teilten damals mit, das Verfahren werfe schwierige Fragen auf, die nicht auf die Schnelle beantwortet werden könnten.
Gesetzentwurf schon im Januar?
Gesetzliche Regelungen sollten zügig beschlossen werden, kündigten die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Heike Baehrens, und der Rechtspolitiker Johannes Fechner (SPD) nach dem Urteil an. Denkbar sei dafür eine Regelung im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. “Wir werden dazu noch im Januar Beratungen beginnen.”
Die rechtspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Katrin Helling-Plar, sagte der Deutschen Presse-Agentur: “Als Gesetzgeber müssen wir nun klare Regelungen insbesondere auch zu Verfahrensfragen treffen. Zugleich werden es auch künftig die Ärztinnen und Ärzte sein müssen, die letztendlich die Entscheidungen im konkreten Einzelfall treffen. Wir sollten zu alldem nun umgehend in eine breite und umfassende gesellschaftliche Diskussion eintreten.”
Die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Andrea Lindholz (CSU), verlangte schnelle Rechtssicherheit für Ärzte, auch mit Blick auf eine drohende Überlastung der Krankenhäuser durch die Omikron-Variante des Coronavirus. “Die vom Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss aufgeworfenen Fragen könnten deshalb schon bald akut werden. Aus diesem Grund sollte aus meiner Sicht im Januar ein entsprechendes Gesetz vom Bundestag beraten und verabschiedet werden.”
Quelle: dpa