Praxis WissenArzneien: Muss es immer RCT sein?

Sollten Patienten früher neue Arzneien erhalten? Auch wenn noch keine abschließenden Daten vorliegen? Eine spätere Zulassung ist nicht unbedingt sicherer als eine frühe, zeigt eine Untersuchung. Gerade Ärzte sehen aber gute Gründe, am Standard, der randomisierten kontrollierten Studie (RCT), festzuhalten.

„Würden Sie mit einem Fallschirm aus dem Flugzeug springen, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass er sich öffnet, bei zehn Prozent liegt?“ Diese scheinbar einfache Frage hat Bettina Ryll, Gründerin des Melanoma Patient Network Europe, ihren Zuhörern auf dem World Health Summit im Oktober 2015 gestellt. Kaum jemand wird mit der Beantwortung gezögert haben. Anders war es sicher bei der Anschlussfrage: „Und was ist, wenn das Flugzeug bald in einen Berg rast?“

Ryll, die ihren Mann durch ein Melanom verloren hat, setzt sich für einen frühen Zugang der Patienten zu viel versprechenden Arzneimitteln ein, auch wenn noch keine abschließenden Studien vorliegen. Beim Herbst-Symposium des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Köln diente das Beispiel Prof. Dieter Paar als Beleg dafür, dass für Patienten die frühe Zulassung von Arzneimitteln vor dem Abschluss von randomisierten kontrollierten Studien (RCT) eine Chance sein kann. Paar leitet die medizinische Abteilung beim Arzneimittelhersteller Sanofi.

Er skizzierte mehrere Vorteile des Verfahrens der sogenannten Adaptive Pathways [1]. „Patienten können, wenn man es gut macht, früher mit einer Therapie behandelt werden.“ Das gelte besonders für Erkrankungen, bei denen es einen hohen ungedeckten therapeutischen Bedarf gibt. Die Effizienz der Arzneimittelentwicklung kann auf diesem Weg verbessert werden, findet er. „Wenn man es richtig macht, können am Anfang genau die richtigen Patienten behandelt werden.“ Das sind die mit der größten Aussicht auf einen Behandlungserfolg.

Allerdings ist mit dem Vorgehen auch eine Reihe von Herausforderungen verbunden. So müsse sichergestellt sein, dass nach der frühen Zulassung auch tatsächlich nur die Patienten das Mittel erhalten, für die sich ein Behandlungserfolg abzeichnet, sagte er. Auch müssten die Unternehmen nach der frühen Zulassung weiter forschen. Die European Medicines Agency (EMA) hat für das Verfahren der Adaptive Pathways aus 34 Bewerbern sechs Kandidaten ausgewählt. „Es ist nicht zu erwarten, dass die gesamte Zulassung durch solche Pathways ersetzt wird“, sagte Paar. Mit einem „Tsunami“ an frühen Zulassungen sei nicht zu rechnen, bestätigte Dr. Hans-Georg Eichler, Senior Medical Officer bei der EMA.

Die Behörde sei enttäuscht gewesen über manche Einreichungen der Pharmafirmen, sagte er. Sie hätten nur dargelegt, was sie bis zur Zulassung machen wollen, das weitere Vorgehen aber im Dunkeln gelassen. „Wir wollen aber den kompletten Plan“, betonte Eichler. Jedes Pharmaunternehmen wisse, dass es sich einem Health Technology Assessment stellen muss – egal auf welchem Weg es die Zulassung für ein Mittel erhält, betonte Paar. Aber die späte Zulassung sei nicht per sé sicherer als die frühe. Er verwies auf eine retrospektive Untersuchung, die 2011 im British Journal of Clinical Pharmacology veröffentlicht wurde [2]. Danach mussten bei 15 Prozent der Medikamente nach einer bedingten oder außergewöhnlichen Zulassung Rote-Hand-Briefe verschickt werden. Bei der klassischen Zulassung waren es 14 Prozent.

Für Paar ist klar, dass an die frühe Zulassung strenge Maßstäbe angelegt werden müssen. Die Hürden dürften aber nicht so hoch liegen, dass Patienten mit einem hohen unerfüllten Therapiebedarf sehr lange warten müssen, sagte er. „Wir haben eine gemeinsame Verantwortung, mit RCT-Evidenz und guter Nicht-RCT-Evidenz dem berechtigten Patientenwunsch Genüge zu tun.“ Prof. Bernd Mühlbauer, Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie am Klinikum Bremen-Mitte, hält nichts vom „Schwanengesang auf die evidenzbasierte Arzneimittel-Zulassung“. Für ihn hat die Ausrichtung der Zulassung auf randomisierte kontrollierte Studien gute Gründe. „Wir wollen nichts übersehen, was da ist, und nichts sehen, was nicht da ist.“

Mühlbauer, der Vorstandsmitglied der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft ist, sieht die Aussagekraft von beschleunigten Zulassungen mit Blick auf die Arzneimittel-Sicherheit und -Wirksamkeit skeptisch. „Bei der beschleunigten Zulassung besteht die Gefahr der Überschätzung der erwünschten Effekte und der Unterschätzung der unerwünschten Effekte“, warnte er.

Das Phänomen der beschleunigten Zulassung sei nicht neu. Untersuchungen zeigten, dass es in der Regel vier bis fünf Jahre dauert, bis die Hersteller sämtliche Zulassungsauflagen erfüllt hatten. Das ist in seinen Augen ein gewichtiges Argument dagegen, die Zulassungsverfahren generell zu beschleunigen. In dieser Frage sieht Mühlbauer die Politik in der Pflicht. Sie müsse Maßnahmen gegen die Missachtung der Zulassungsbedingungen auf den Weg bringen.

„Wenn Substanzen die Auflagen nicht erfüllen, dann müssen sie aus dem Markt“, forderte der Mediziner. Wird ein Arzneimittel wegen seines Nutzens für eine Subpopulation zugelassen, müssten auf jeden Fall Mechanismen implementiert werden, die verhindern, dass sich das Indikationsgebiet ür die Substanzen verbreitet, sagte Mühlbauer. Auch IQWiG-Leiter Prof. Jürgen Windeler sieht im Moment keinen Anlass für allzu große Hoffnungen auf die beschleunigte Zulassung. „Mit Adaptive Pathways erhöhen wir die Unsicherheit mit einem Darlehen auf die künftige Sicherheit, an deren Realisierung ich gewisse Zweifel habe.“

Es werde immer Einzelschicksale wie das des Mannes von Bettina Ryll geben und deshalb die verständliche Forderung von Patienten nach einem schnellen Zugang zu Arzneimitteln, die Hoffnung versprechen. Das dürfe aber kein Grund sein, von bewährten Regularien abzuweichen, findet Windeler. Er kenne keinen Beleg dafür, dass die Bevölkerung die erhöhte Unsicherheit akzeptieren würde, die mit einer Änderung des Zulassungsverfahrens verbunden wäre.

„Wir kümmern uns um die Standards, bis es eine explizite Entscheidung gibt, die Standards nicht mehr so ernst zu nehmen.“ Windeler hält es für nicht akzeptabel, die Standards langsam und schleichend zu unterminieren und immer weiter zurückzufahren – „den Patienten Vorteile versprechend, aber verschweigend, welche Probleme und Risiken damit verbunden sind“.

    1. Das Konzept der “Adaptive Pathways” sieht eine stufenweise Zulassung von Arzneimitteln vor. Mit einer begrenzten Zulassung nur für bestimmte Patienten könnten Arzneien dann früher eingesetzt werden. Basis dafür wären aber Studien mit geringeren Teilnehmerzahlen.
    1. Additional safety risk to exceptionally approved drugs in Europe? Arna H. Arnardottir, Flora M. Haaijer-Ruskamp, Sabine M.J. Straus, Hans-Georg Eichler, Pieter A. de Graeff, Peter G. M. Mol. Br J Clin Pharmacol 72: 490-499 (2011) (doi: 10.1111/j.1365-2125.2011.03995.x)
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