Forum PolitikWozu die ollen Kamellen der Berufstheorie?

Mehr Selbstbewusstsein wünscht sich unser Autor von seinen Kolleginnen und Kollegen, wenn sie einmal mehr wegen ihrer besonderen Herangehensweise belächelt werden. Hausärztliche Arbeitsmethodik verdient Beachtung. In loser Folge nimmt er diese deshalb hier in nächster Zeit genauer unter die Lupe.

Vom Beginn der ersten klinischen Vorlesungen an hört der aufmerksame Student, dass Hausärzte keine Diagnose stellen, nur palliativ und symptomatisch behandeln und abwarten. Deshalb sind sie nur die Ärzte für das Banale, für Husten etwa oder Durchfall und fürs Palliative. Dann noch ein tendenziöses Anekdötchen und der Student hat gelernt: Niemals werde ich Hausarzt. Gewiss, auch diese Darstellung ist Anekdote, aber was ist der Hintergrund?

Stimmt da was nicht?

In der Tat: Der Verzicht auf eine Diagnose beim Erstkontakt, das abwartende Offenhalten der Diagnose und das Einleiten einer vorläufigen, meist symptomatischen Therapie sind wesentliche Elemente der hausärztlichen Arbeitsmethodik beim neuen noch unbekannten Beratungsanlass. Dass es aber so sein muss, dass jedes andere Vorgehen die Patienten gefährden würde und Hausärzte anders niemals ihre Betreuungsaufgabe erfüllen könnten, steht auf einem anderen Blatt. Das betrachten die Hausarztverächter nicht, sie wissen es nicht, haben es nicht verstanden.

Umso wichtiger, dass wir als Hausärzte offensiv den Wert unserer Arbeit vertreten können und unser Selbstbewusstsein stärken: Was wir tun und wie wir es tun, ist völlig richtig. Dazu brauchen wir die fundamentalen Kenntnisse der allgemeinmedizinischen Berufstheorie.

Die Quellen der hausärztlichen Arbeitsmethodik

Gleich eine Frage: hausärztliche Arbeitsmethodik und allgemeinmedizinische Berufstheorie, wie geht das zusammen?

Die Allgemeinmedizin als medizinische Disziplin ist aus der hausärztlichen Tätigkeit entstanden, als sie begann, sich wissenschaftlich zu untersuchen und eine Berufstheorie zu entwickeln (BRAUN). Beides war in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts (damit das nicht so fern klingt: vor etwa 50 Jahren) eng beieinander. Heute können Fachärzte für Allgemeinmedizin viele verschiedene Aufgaben auch außerhalb der Hausarztfunktion übernehmen (denn sie sind die am breitesten weitergebildeten Ärzte), andererseits sind auch Internisten in der Hausarztaufgabe tätig: Sie müssen etwas nachlernen und ebenfalls nach der hausärztlichen Arbeitsmethodik vorgehen, um nicht zu scheitern. Das in der Inneren Klinik gelernte Vorgehen eignet sich nicht für die hausärztliche Praxis.

Wir sollten uns dennoch bemühen, die Begriffe sauber zu verwenden, es passiert da viel Unfug mit Folgen für unser Ansehen. Aber lassen wir das zunächst beiseite. Erst die Diagnose, dann die Therapie – das ist das Credo der Inneren Medizin. Und da diese Fachrichtung die studentische Ausbildung und lange Zeit auch die allgemeinmedizinische Weiterbildung dominierte, erscheint jedes Abweichen als ein Sakrileg. Siehe oben.

Aber es gibt noch andere Vorgehensweisen anderer Fachrichtungen, jeweils entwickelt aus der Betreuungsaufgabe und deren Arbeitsbedingungen: der Chirurg greift nicht sofort zum Messer, sondern beobachtet erst den Verlauf, um die Diagnose zu sichern und die Indikation für das operative Vorgehen zu stellen. Daher das abwartende Offenhalten der Diagnose. Und von der Nervenheilkunde ist die hermeneutische Fallbetrachtungsweise entlehnt: jeder Fall ist anders und bedarf der aufmerksamen Würdigung des Verlaufs in dieser Einmaligkeit.

Aus diesen Quellen speist sich die hausärztliche Arbeitsmethodik beim unausgelesenen Patientengut, also bei einer neu vorgetragenen Behandlungsursache. (Der Patient kann durchaus bereits beim Hausarzt bekannt sein, aber das Problem ist neu oder zumindest wesentlich verändert.)

Die hausärztliche Arbeitsmethodik ist für Hausärzte die wichtigste Leitlinie. Sie kann (und sollte) das Grundsätzliche im Vorgehen des Hausarztes sein,

  • weil sie konsequent ans Ziel des "Beratungsergebnisses" führt,

  • weil sie das rationellste Vorgehen beschreibt,

  • weil sie weitgehende Sicherheit gewährt.

Zuerst Gefahren ausschließen

Der Hausarzt sollte seinen ersten Eindruck bewusst wahrnehmen und möglichst dokumentieren, das kann für den Verlauf von Nutzen sein. Dann ist zunächst der "Ausschluss eines abwendbar gefährlichen Verlaufs" erforderlich, ggf. sind erforderliche Maßnahmen ohne Umwege einzuleiten, seien es eigene Handlungen in der Praxis, seien es Überweisungen oder Klinikeinweisungen bis zum Notarzteinsatz. Neudeutsch heißt es jetzt oft "red flags", aber der alte Begriff umfasst mehr als nur die Krankheitszeichen, die uns warnen sollen, denn er schließt das Handeln ein. Freilich ist der Begriff etwas sperrig.

Und vor allen anderen diagnostischen Erwägungen sollte noch in Betracht gezogen werden, ob nicht die bisherige laufende oder kürzlich eingeleitete Therapie Ursache der neu aufgetretenen Beschwerden sein könnte. Besonders ist das bei multimorbiden und älteren (geriatrischen) Patienten zu bedenken.

Besteht keine besondere Dringlichkeit, können wir uns der Analyse des Patientenproblems zuwenden. Darstellung durch den Patienten, ergänzende Fragen zur Anamnese und die körperliche Untersuchung lassen uns meist schon zu einem Beratungsergebnis kommen. Unser Langzeitwissen zum Patienten und seinem Umfeld lassen wir einfließen.

Die Allgemeinmedizin hat dazu eigene Hilfsmittel entwickelt (die natürlich in einer durch Spezialisten dominierten Weiterbildung nicht angesprochen werden), zum Beispiel die Programmierte Diagnostik von Braun und Mader oder die Kasugrafie von Braun, Fink und Kaminski. Hausärztliche Leitlinien beschreiben evidenzbasiert das hausärztliche Vorgehen bei ausgewählten Beratungsursachen.

Das Beratungsergebnis kann ein Symptom, ein Syndrom, das Bild einer Krankheit oder (in zehn Prozent der Fälle) bereits eine Diagnose sein. Das Kassensystem zwingt uns zur Verschlüsselung laut ICD-10 und zur Behauptung einer gesicherten Diagnose. Schauen wir uns die "Diagnosen" der ICD genauer an, finden wir darunter jede Menge Symptome und Syndrome. Das als gesichert zu bezeichnen, birgt aber eine für den Patienten nicht ungefährliche Scheinsicherheit. Unser "Abwartendes Offenhalten" ist Patientenschutz, heißt: Wir wissen es jetzt nicht, aber wir lügen uns nicht in die Tasche, wir beobachten aufmerksam und suchen weiter. Wenn wir mit dem Patienten auf der Basis dieses Beratungsergebnisses eine vorläufige, meist symptomatische Therapie und ggf. das weitere Vorgehen vereinbart haben, ist der Prozess nicht abgeschlossen. Denn zwingender Bestandteil der Strategie ist die Vereinbarung eines Kontrolltermins und, falls der Verlauf nicht zu einer angemessenen Minderung des Problems geführt hat, die "exponentielle Eskalation der Diagnostik und Therapie" (Grethe).

Die hausärztliche Diagnosefindung ist also ein langfristiger, meist mehrstufiger Prozess, der sich nur dann beschließt, wenn sich das Patientenprob- lem durch Selbstheilung und /oder durch die Behandlungsmaßnahmen aufgelöst hat. Ansonsten wird die Schleife Diagnostik-Therapievereinbarung-Kontrolltermin immer wiederholt, auch wenn eine chronische Erkrankung eine Dauertherapie erfordert. Auch unter scheinbar abgeklärten chronischen Krankheiten können sich andere seltene Erkrankungen verbergen, die sich erst im Verlauf offenbaren. Ein Verzicht oder ein Aussetzen kann mit dem Patienten vereinbart werden, wenn die Beratungsursache für den Patienten ein geringeres Problem darstellt als die Belastung weiterer Diagnostik und Therapieversuche – einschließlich der psychischen Belastung. Dann wird eben symptomatisch entsprechend dem erreichten Stand der Abklärung zur Minderung des Leidens beigetragen – unter Offenhalten der Diagnose. Das wäre auch das Vorgehen in der Dauertherapie bei geklärten, aber nicht heilbaren Störungen.

Der Knackpunkt ist die Kontinuität des skizzierten Prozesses. Diese ist nur in einem primärärztlichen System oder in einem Einschreibsystem wie der "Hausarztzentrierten Versorgung" zu sichern.

Geduld schützt Patienten

Gefährdet die Strategie des "abwartenden Offenhaltens der Diagnose" statt "Erst die Diagnose, dann die Therapie" den Patienten? Im Gegenteil, sie schützt den Patienten vor unnötigen Maßnahmen und ermöglicht eine rasch einsetzende Minderung seines Leidens:

Etwa die Hälfte der Patientenprobleme lösen sich unter der symptomatischen Erst- therapie durch Selbstheilung auf, ohne dass eine Diagnose im hier formulierten strengen Sinne gestellt wurde oder hätte gestellt werden müssen. Das entlastet den Patienten, den Hausarzt und das Gesundheitssystem.

Sofort mit dem Erstkontakt können bereits Maßnahmen zur Minderung des Leidensdrucks eingeleitet werden, ohne tiefergehende Diagnostik abwarten zu müssen.

Die kritische Würdigung des Behandlungsergebnisses beim Kontrolltermin lädt immer wieder ein, den Diagnostikprozess fortzusetzen. Der Wandel des Problems im Verlauf und unter der Therapie gibt neue Ansatzpunkte zu dessen vollständiger Klärung.

Bei einer festgelegten "gesicherten" Diagnose erfolgt das nicht, die Patienten sind in ihrer Diagnose gefangen, in ihrem "Schubfach". Das sind vor allem die Erfahrungen der Patienten mit einer "seltenen Erkrankung", die dann als Chroniker, als Psychosomatiker oder noch schlimmer als Psychopathen eingeordnet ("abgestempelt") worden sind – ohne Beweis für diese "Diagnose".

Der Internist in der Klinik stellt erst die Diagnose, ehe er das Therapiekonzept entwickelt. Der Chirurg beobachtet engmaschig den Verlauf in Bereitschaft zum operativen Eingreifen, der Psychiater diagnostiziert im Betreuungsverlauf seines Patientenfalls – jeder entsprechend seiner Arbeitsaufgabe, seiner Arbeitsbedingungen und seiner Klientel. Jede dieser Arbeitsmethodiken ist richtig, wie unsere hausärztliche auch. Jeder Arzt muss für ihre korrekte Anwendung sorgen.

Der Autor hatte Gelegenheit und Verpflichtung, diesen Teil der hausärztlichen Arbeitsmethodik und wissen- schaftlichen Gremien anderer Fachgruppen oder Fachkreise darzustellen. Üblicherweise hatte er vor dieser Einführung einen schweren Stand: Die Vorurteile sind verbreitet und hartnäckig. Aber bald setzte sich die Erkenntnis durch, dass Hausarzt doch etwas anderes ist als die eigene Fachrichtung – und dass sie so richtig ist, wie es dargestellt wurde. Und dann konnte die konstruktive Sacharbeit beginnen, jeder trug sein Wissen, Können und Handeln bei.

Nur die wenigsten Ärzte hausarztfremder Fachrichtungen hatten Gelegenheit, in einer Hausarztpraxis zu lernen, die aber waren von vornherein offen und zugewandt. Das ist ein wichtiges Argument für die stärkere Einbeziehung der Hausarztmedizin in die Praxisanteile im Studium: Es wird sich sicher positiv auf das Verständnis und die Zusammenarbeit auswirken, wenn wir es denn plausibel darstellen, erläutern, begründen und so praktisch leben können.

Die hausärztliche Arbeitsmethodik hat drei Wurzeln:

  1. die krankheitsbezogene, internistische Arbeitsweise (oder auch die klassische akademische): erst die Diagnose, dann die Therapie

  2. die persönlichkeitsbezogene psychiatrische: die fallbezogene oder hermeneutische Betrachtungsweise

  3. die entwicklungsbezogene chirurgische: das abwartende Offenhalten der Diagnose

Weitere Themen dieser Reihe:

  • Hausarzt oder Allgemeinmedizin

  • Das Patientengut des Hausarztes – ein Chaos?

  • Analyse des Patientenproblems

  • Was ist eine Diagnose?

  • Gespräch zur Therapievereinbarung

  • und viele spannende mehr

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