Forum PolitikQuartäre Prävention: Zu viel des Guten

„Seit ich als Hausarzt in der überversorgten Vorstadt arbeite, setze ich bei Patienten mehr Medikamente ab als ich verordne.“ Was läuft schief in unserem Gesundheitswesen? Wie können Hausärzte nutzlose Medizin verhindern? Überlegungen eines Hausarztes anhand eines Fallbeispiels.

Beispielfall: Der 76-jährige Patient fühlt sich bis auf die üblichen Einschränkungen des Alters wohl. Vor vier Jahren waren bei einer Doppleruntersuchung der A. Carotis geringe atherosklerotische Ablagerungen gefunden worden. Seither wird er jährlich zur Kontrolle des Befundes einbestellt. Seine Medikation bestand aus Valsartan 80mg, ASS 100mg und Atorvastatin 20mg. Die Blutdruckwerte des Patienten lagen im Mittel bei 155/85mmHg. Ein Urologe untersuchte regelmäßig die Prostata, nahm PSA-Werte ab und verschrieb Tamsulosin. Wegen zu hoher Harnsäurewerte und nachdem er vor etwa zehn Jahren einen Gichtanfall erlitten hatte, erhielt der Patient Allopurinol.

Der Fall zeigt drei Webfehler im deutschen Gesundheitssystem:

    1. Den traditionellen Fokus der Medizin auf den akuten Fall und die zunehmende Spezialisierung
    1. Das Denken in Pathomechanismen, statt Nutzung von Evidenz
    1. Die fehlende Trennung zwischen Primärund Sekundärmedizin

Im Folgenden werden die drei Punkte anhand des Falls erläutert, um zu zeigen, wie Hausärzte nutzlose Medizin im Sinne ihrer Patienten verhindern können.

Fokus auf akuten Fall

Ärzte werden vor allem im stationären Versorgungssektor aus- und weitergebildet. Dort liegt der Fokus überwiegend auf dem akuten Fall. Zudem gibt es an Lehrkrankenhäusern kaum noch Generalisten. Manche Kardiologen sind schon nicht einmal mehr Spezialisten für das ganze Herz, sondern reine Rhythmologen. Studierende lernen also früh, dass man für jede Frage außerhalb der eigenen Spezialität ein Konsil anfordert.

Das Leben jedoch ist „chronisch“, geht bergab und endet mit dem Tod. Mit dem Altern wächst die Zahl neuer akuter Gesundheitsprobleme, was häufig in die Multimedikation führt. Spezialisten setzen Therapien an. Aber wer setzt ab? Alle Lehre konzentriert sich auf die Abfolge von Diagnose und Indikationsstellung von Therapien. Kaum je wurde erforscht oder gelehrt, wann man Therapien oder präventive Maßnahmen wieder absetzen kann. Die Betreuung älter werdender Patienten erfordert jedoch genau das.

Mein Patient hatte keine Probleme beim Wasserlassen. Bei einem Auslassversuch mit Tamsulosin konnte er keinen Unterschied feststellen. Nachdem ich ihn über Nutzen und Schaden des Prostatakrebs-Screenings in absoluten Zahlen mithilfe des entsprechenden DEGAM-Manuals aufgeklärt hatte, beschloss er, darauf zu verzichten.

Das Denken in Pathomechanismen

Die DEGAM-Leitlinie Schlaganfall stellt klar: „Ein allgemeines Screening bezüglich asymptomatischer Carotisstenosen sollte nicht durchgeführt werden“. Genau dies war aber geschehen und infolgedessen erhielt mein Patient ASS und Atorvastatin. Zu ASS in der Primärprävention sagt die Leitlinie: „Eine antithrombotische Therapie zur Primärprävention des Schlaganfalls wird nicht empfohlen, da hierbei keine Risikoreduktion durch ASS nachgewiesen werden konnte“.

Zur Lipidtherapie in der Primärprävention heißt es in der Leitlinie: „Hypercholesterinämie (LDL > 160 mg/dl) soll bei Patienten mit hohem kardiovaskulären Risiko mit Statinen behandelt werden“. Das LDL meines Patienten lag bei 110mg/dl. Wie sich mit dem Arriba-Rechner (http://hausarzt. link/VUgzQ) schnell ermitteln ließ, lag sein kardiovaskuläres Risiko im Altersdurchschnitt.

Atorvastatin reduziert Cholesterinwerte stärker als andere Statine, nicht jedoch Herzinfarkte oder Schlaganfälle. Dies zeigte eindrucksvoll die IDEAL-Studie (Pedersen TR et al. 2005). Dafür wurden 8.888 Patienten, die bereits einen Herzinfarkt erlitten hatten, entweder mit 80mg Atorvastatin oder mit 20mg Simvastatin behandelt. Die Cholesterinwerte unterschieden sich infolgedessen deutlich zwischen den Gruppen. Ein signifikanter Unterschied in den Re-Infarktraten fand sich aber nicht.

Die IDEAL-Studie zeigt beispielhaft, wie das, was theoretisch passieren müsste, nicht unbedingt tatsächlich eintritt: Eine stärkere Cholesterinsenkung führt nicht unbedingt zu weniger Herzinfarkten oder Schlaganfällen. Darum ist Evidenz als Grundlage ärztlichen Handelns so wichtig.

Seit vielen Jahren drehen sich kardiologische Kongresse um Vorteile von beispielsweise Atorvastatin gegenüber Simvastatin oder der neuen oralen Antikoagulantien (NOAK) gegenüber Phenprocoumon. Während wir uns jedoch um die marginalen Vorteile von NOAK streiten, lebt knapp ein Drittel der Patienten mit Vorhofflimmern, ohne diagnostiziert zu sein. Ein kostengünstiges Screening könnte so aussehen: Ab dem 60. Lebensjahr fühlen wir Ärzte allen Patienten regelmäßig den Puls und schreiben bei Arrhythmien ein EKG. So ließen sich mehr Schlaganfälle verhindern als mit dem Wechsel von Phenprocoumon auf NOAK.

Der Nutzen medizinischer Maßnahmen ist häufig deutlich kleiner als man erwartet hätte. Kennen Hausärzte die tatsächlichen Effektgrößen, kann es helfen, viele Medikamente abzusetzen. Ein Beispiel dafür ist Allopurinol. Ein Cochrane-Review aus 2014 gibt die Effektstärke folgendermaßen an:

  • Unter Placebo erleiden zwölf von 100 Patienten einen Gichtanfall

  • Unter Allopurinol erleiden acht von 100 Patienten einen Gichtanfall

Gemeinsam haben der Patient und ich beschlossen, ASS, Atorvastatin und Allopurinol abzusetzen. Einen Gichtanfall hat er auch ohne Allopurinol seitdem nicht mehr erlitten. Nachdem der Blutdruckwert unbefriedigend war, haben wir von Valsartan auf ein Kombinationspräparat von Ramipril + HCT umgestellt. Danach lag der Blutdruck im Mittel bei 135/85 mmHg.

Primär- und Sekundärmedizin

Wir Hausärzte kennen das Problem: Spezialisten bestellen die Patienten „organweise“ zu regelmäßigen Kontrollen ein – und wir sollen die Überweisung schreiben. Meinen wir hingegen, ein Patient sollte dringend zum Spezialisten, müssen wir selbst dort anrufen, um zeitnah einen Termin zu vereinbaren.

Eine aktuelle Studie hat geprüft, wie häufig sich bei Patienten mit Carotisstenosen, bei denen sich die A. Carotis zwischen zwei Doppler-Kontrollen vollständig verschlossen hatte, in diesem Moment ein Schlaganfall ereignet hat. Dies war nur bei 0,3 Prozent der Fall. Die Schlaganfallrate bei Verschluss lag weit unterhalb der Komplikationsraten von Stenting oder Endarteriektomie. Warum also überhaupt noch diese Kontrollen? Wie stark ist der Einfluss des Geldverdienens auf die Häufigkeit technischer Kontrolluntersuchungen?

Spezialisten haben eine Weiterbildung durchlaufen, die sie für die Versorgung ausgewählter Patienten qualifiziert. Sie brauchen diesen Filter. Auch sollten sie nicht durch die Verknüpfung von Handeln und Geldverdienen korrumpiert werden. Das Problem zeitnaher Termine und das Problem vieler nutzloser Kontrollen wäre schnell gelöst, wenn Primär- und Sekundärmedizin klar getrennt wären und es nur noch angestellte Sekundärmediziner gäbe.

Die jährlichen Dopplerkontrollen der A. Carotis wären zwar entbehrlich, aber es war nicht leicht für meinen Patienten, darauf zu verzichten. Leichter wäre es gewesen, damit gar nicht erst anzufangen.

Was wäre, wenn wir uns plötzlich in einem Primärarztsystem wiederfänden? Professionalität bedeutet, sich zu einem Gebiet von Aufgaben zu bekennen und sie nachweislich zu bewältigen. Dafür müssten wir über den Organ- und Personenbezug hinaus einen Populationsbezug akzeptieren. Wir müssten besser in der Lage sein, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Das Unwichtige sollten wir weglassen und dafür das Wichtige konsequent umsetzen.

Das etablierte Maß zur Unterscheidung ist die Evidenz. Um uns von der scheinbaren Gängelung durch die evidenzbasierte Medizin zu befreien, müssten wir zumindest anfangen, selbst Studien zu lesen. Dann würden wir Leitlinien leichter als das begreifen, was sie sein können: Entscheidungshilfen im komplexen Alltag und in der Kunst des Weglassens.

Fazit

  • Wenn man Ihnen Wirkmechanismen und relative Effektgrößen präsentiert, fragen Sie stattdessen nach relevanten Endpunkten und deren absoluten Effektgrößen.

  • Besuchen Sie einen Grundkurs in evidenzbasierter Medizin, um besser zu verstehen, wie Leitlinienempfehlungen zustande kommen.

  • Hinterfragen und prüfen Sie gerade bei ihren älter werdenden Patienten jedes Medikament auf seine Indikation.

  • Lassen Sie sich von den Leitlinien der DEGAM dabei helfen.

  • Arbeiten Sie in Ihrer Praxis mit Checklisten, um weniger Entscheidungen zu vergessen.

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.

Literatur

  • Kobayashi M, Tokue A, Morita T. Discontinuation of Tamsulosin Treatment in Men with Lower Urinary Tract Symptoms: A Pilot Study. Urol Int 2006;76:304–308

  • DEGAM-Praxisempfehlung. Hausärztliche Beratung zu PSA-Screening. Stand 12/2016 Online unter: http://www.degam.de/degam-praxisempfehlungen.html

  • DEGAM-Leitlinie Nr. 8 – Schlaganfall. Omikron publishing Düsseldorf 2012. Online unter: http://www.degam.de/degam-leitlinien-379.html

  • Pedersen TR, Faergeman O, Kastelein JJP, Olsson AG, Tikkanen MJ et al. for the Incremental Decrease in End Points Through Aggressive Lipid Lowering (IDEAL) Study Group. High-Dose Atorvastatin vs Usual-Dose Simvastatin for Secondary Prevention After Myocardial Infarction. The IDEAL Study: A Randomized Controlled Trial. JAMA. 2005;294:2437-244

  • Moran PS, Flattery MJ, Teljeur C, Ryan M, Smith SM. Effectiveness of systematic screening for the detection of atrial fibrillation (Review). Cochrane Database of Systematic Reviews 2013, Issue 4. Art. No.: CD009586. DOI: 10.1002/14651858.CD009586.pub2.

  • Seth R, Kydd ASR, Buchbinder R, Bombardier C, Edwards CJ. Allopurinol for chronic gout (Review). Cochrane Database of Systematic Reviews 2014, Issue 10. Art. No.: CD006077. DOI: 10.1002/14651858.CD006077.pub3.

  • Yang C, Bogiatzi C, Spence JD. Risk of Stroke at the Time of Carotid Occlusion. JAMA Neurol. doi:10.1001/jamaneurol.2015.1843

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