LeopoldinaÖffentliches Leben unter Bedingungen normalisieren

Kanzlerin und Ministerpräsidenten wollen über die Zukunft der harten Beschränkungen in der Corona-Krise beraten. Für die Kanzlerin dürften die weitreichende Empfehlungen der Leopoldina sehr wichtig sein. Wie weit gehen Bund und Länder bei möglichen schrittweisen Lockerungen?

Die Experten der Leopoldina sprechen sich für eine Masken-Pflicht etwa in Bussen und Bahnen aus.

Halle/Berlin/Genf. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina empfiehlt, unter bestimmten Voraussetzungen so bald wie möglich zuerst Grundschulen und die Sekundarstufe I schrittweise zu öffnen. In der am Montag veröffentlichten Stellungnahme der Wissenschaftler, die sich mit weiteren Schritten in der Corona-Pandemie beschäftigt, heißt es unter anderem zu den Voraussetzungen, die Infektionen müssten auf niedrigem Niveau stabilisiert und die bekannten Hygieneregeln eingehalten werden. Zudem sprechen sich die Experten für eine Masken-Pflicht etwa in Bussen und Bahnen aus.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte die Studie der Leopoldina als “sehr wichtig” für das weitere Vorgehen bezeichnet. Zur Sekundarstufe 1 gehören etwa Hauptschulen, Realschulen, Gesamtschulen bis Klasse 10 sowie Gymnasien bis einschließlich der Klassen 9 beziehungsweise 10.

Normalisierung unter Voraussetzungen

In der Stellungnahme “Die Krise nachhaltig überwinden” sagen die Experten, dass auch viele weitere Teile des öffentlichen Lebens schrittweise unter bestimmten Voraussetzungen wieder normalisiert werden können.

Zunächst könnten etwa der Einzelhandel, das Gastgewerbe und Behörden öffnen. Aber auch private und dienstliche Reisen sowie gesellschaftliche, kulturelle und sportliche Veranstaltungen könnten wieder stattfinden.

Hierfür müssten jedoch zunächst auch “notwendige klinische Reservekapazitäten aufgebaut” und auch andere Patienten wieder regulär aufgenommen werden. Als Voraussetzung wird auch jeweils genannt, dass Hygieneregeln diszipliniert eingehalten werden. Und auch wenn jetzt über eine Normalisierung des gesellschaftlichen Lebens diskutiert wird, machen die Experten klar, dass “die Pandemie das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben noch auf Monate bestimmen wird”.

Konstante Lerngruppen bilden

Zur Öffnung von Schulen und Kitas heißt es weiter: “Da kleinere Kinder sich nicht an die Distanzregeln und Schutzmaßnahmen halten können, gleichzeitig aber die Infektion weitergeben können, sollte der Betrieb in Kindertagesstätten nur sehr eingeschränkt wiederaufgenommen werden.”

In Kitas sollten maximal fünf Kinder in einem Raum sein. Weil ältere Schüler Fernunterricht besser nutzen könnten, wird empfohlen, dass diese erst später wieder zum gewohnten Unterricht zurückkehren sollten.

Die Wissenschaftler machen im Bildungsbereich auch weitere konkrete Vorschläge, wie der Unterricht künftig stattfinden könne. Zunächst solle sich etwa auf die Schwerpunktfächer Deutsch, Mathe und Fremdsprachen konzentriert werden.

Zudem sollten konstante Lerngruppen gebildet werden, um das Ansteckungsrisiko zu verringern. Als Gruppengröße wird eine Zahl von 15 Schülerinnen und Schülern genannt, sofern entsprechend große Klassenräume vorhanden sind.

“Es bedarf eindeutiger nachprüfbarer Regelungen sowohl für die Hygienestandards in den Klassenräumen als auch für die Flure und die Toiletten”, teilte der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Bildung, Udo Beckmann mit.

An marktwirtschaftlicher Wirtschaftsordnung festhalten

In den Empfehlungen der Leopoldina heißt es unter dem Punkt “Wirtschafts- und Finanzpolitik zur Stabilisierung nutzen”, staatliche Beteiligungen sollten nur im äußersten Notfall zur Stabilisierung von Unternehmen eingesetzt werden.

Mit dem Auslaufen der jetzigen gesundheitspolitischen Maßnahmen würden mittelfristig weitere expansive fiskalpolitische Impulse notwendig sein. Auf der Einnahmenseite könnten dies Steuererleichterungen sein, das Vorziehen der Teilentlastung beim Solidaritätszuschlag oder seine vollständige Abschaffung. Auf der Ausgabenseite seien zusätzliche Mittel für öffentliche Investitionen, etwa im Gesundheitswesen, der digitalen Infrastruktur und im Klimaschutz wichtig.

Die Experten rufen zudem dazu auf, an der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung festzuhalten. So sei an der Schuldenbremse im Rahmen ihrer derzeit geltenden Regeln festzuhalten. Dies erlaube gerade in so besonderen Zeiten wie der Corona-Krise eine deutlich höhere Verschuldung, verlange aber bei der Rückkehr zur Normalität wieder deren Rückführung.

“Paternalistische Bevormundung”

Explizit abgelehnt wird eine Isolierung von einzelnen Bevölkerungsgruppen zu deren Schutz. Dies sei eine “paternalistische Bevormundung”.

Dennoch müsse Rücksicht genommen werden. “Die Krankheitswirkung von belastenden Ereignissen hängt wesentlich davon ab, ob ein Individuum sie als vorhersagbar und kontrollierbar erlebt oder nicht”, heißt es mit Blick auf die psychischen und sozialen Folgen der Pandemie.

Daneben geht die Nationale Akademie der Wissenschaften auch auf technische Aspekte ein. Etwa durch freiwillig bereitgestellte GPS-Daten könne die Entscheidungsgrundlage für Maßnahmen optimiert werden. Dies sei auch hilfreich, da sich die Pandemie regional sehr unterschiedlich auspräge und idealerweise ein räumlich eng begrenztes Echtzeit-Monitoring nützlich sei.

Die Stellungnahme geht zudem auf die politischen Dimensionen der Pandemie und der bisher beschlossenen Maßnahmen ein. “Grundrechtseinschränkungen müssen nicht nur ein legitimes Ziel verfolgen – was in der gegenwärtigen Situation mit dem Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung außer Zweifel steht”, schreiben die Wissenschaftler. Dennoch habe der Staat die Pflicht, angesichts der Schwere der Maßnahmen “ständig zu überprüfen, ob nicht mildere Maßnahmen in Betracht gezogen werden können.”

Erste Reaktionen aus der Politik positiv

Die ersten Reaktionen aus der Politik waren positiv. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) teilte mit: “Die Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina mit Sitz in Halle/Saale ist die bisher fundierteste und plausibelste wissenschaftliche Handlungsempfehlung zur Corona-Krise.”

Forschungsministerin Anja Karliczek (CDU) hat die Empfehlungen als “exzellente Beratungsgrundlage” für die anstehenden Entscheidungen der Bundesregierung zur möglichen Lockerung von Einschränkungen in der Corona-Krise bezeichnet.

Die Leopoldina ist eine der weltweit ältesten naturwissenschaftlichen Gelehrtengesellschaften und seit 2008 die Nationale Akademie der Wissenschaften Deutschlands. Unabhängig von wirtschaftlichen oder politischen Interessen berät sie Entscheidungsträger über gesellschaftlich relevante Themen.

RKI rät zum Schulstart für höhere Jahrgänge

Anders als die Leopoldina regt das Berliner Robert Koch-Institut (RKI) an, Schulen zuerst wieder für die höheren Jahrgänge zu öffnen. Es gehe dabei um die Annahme, dass Jugendliche Abstandsregeln besser einhalten könnten, sagte RKI-Präsident Lothar Wieler am Dienstag.

“Das ist eine Entscheidung der Politik”, ergänzte er. Es gebe Gründe dafür und dagegen. Vieles sei ein Ausprobieren.

Es gebe derzeit noch keine Hinweise darauf, dass die Coronavirus-Epidemie in Deutschland eingedämmt sei, betonte Wieler. Es sei aber gelungen, sie zu verlangsamen, vor allem durch das Einhalten der Abstands- und Hygieneregeln. “Diese Disziplin sollten wir weiter beibehalten.”

WHO: “Jetzt ist die Zeit für Wachsamkeit”

Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat erneut zu äußerster Umsicht bei der Lockerung strenger Maßnahmen geraten. “Jetzt ist die Zeit für Wachsamkeit. Jetzt ist die Zeit sehr, sehr vorsichtig zu sein”, sagte WHO-Experte Michael Ryan am Montag in Genf.

Wer erste Schritte zurück zur Normalität gehe, müsse mehrere Bedingungen erfüllen, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus. Dazu gehöre nicht zuletzt die Fähigkeit, die Infizierten schnell identifizieren und isolieren zu können.

Er warnte, dass sich das Coronavirus zwar schnell ausbreite, aber sehr langsam weiche. Das Virus sei zehnmal tödlicher als die Schweinegrippe 2009, so Tedros. Die Menschen müssten auf absehbare Zeit ihr Verhalten ändern und soziale Distanz leben, hieß es.

Zur Frage, ob einmal Infizierte einen Schutz vor Wiederansteckung hätten, hielt sich die WHO zurück. Es gebe noch viel zu wenige Daten, um das wirklich grundsätzlich beantworten zu können. Aktuell gehe man davon aus, dass einmal Erkrankte zumindest für eine gewisse Zeit einen Schutz genießen würden. Wie lange diese Zeit sei, sei aber unklar.

Patientenschützer: Besuche in der Pflege wieder ermöglichen

Nach Ansicht der Deutschen Stiftung Patientenschutz muss bei Lockerungen der Anti-Corona-Maßnahmen ein “Grundschutz” in der Pflege gewährleistet sein, um wieder Besuche zu ermöglichen. Sobald etwa der Infektionsschutz gegeben sei, “können Besuche über Zugangsschleusen erfolgen”, sagte Stiftungsvorstand Eugen Brysch.

Er fügte hinzu: “Pflegeheime sind keine Gefängnisse. Heimbewohner werden aber in Haft genommen, weil der Bundesgesundheitsminister, die Gesundheitsminister der Länder und die Betreiber beim Grundschutz in der Altenpflege versagen.”

Brysch forderte “aufsuchende Test-Teams” für die Altenpflege. “So ist sichergestellt, dass Pflegebedürftige mit Grippe-Symptomen sofort getestet werden.” Das gelte unabhängig davon, ob diese Menschen in einem Heim oder zu Hause lebten. Darüber hinaus sollte mit der systematischen Testung aller Pflegebedürftigen je Heim begonnen werden.

“Überfällig ist, dass alle Gemeinden endlich Corona-Taskforces einrichten. Vereinzelt gibt es dafür schon gute Beispiele. Hier wirken Ärzte und Pfleger der Krankenhäuser, niedergelassene Mediziner und Altenpflegekräfte in Freiwilligen-Pools vor Ort zusammen. Sie können dort eingreifen, wo eine Kettenreaktion droht.”

Spätestens Ende Februar habe sich im nordrhein-westfälischen Kreis Heinsberg abgezeichnet, was in der Corona-Krise auf Deutschland zukommt. “Doch selbst heute nach acht Wochen können Bund, Länder und Kommunen immer noch nicht garantieren, dass Gesichtsschutz, Schutzkleidung und Desinfektionsmittel für mindestens 14 Tage reichen. Wer Lockerungen nach Ostern ins Spiel bringt, der muss garantieren, dass der Grundschutz dauerhaft steht”, argumentierte Brysch.

Quelle: dpa

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