Bremen. Von der fehlerhaften Telematikinfrastruktur (TI), die die Praxisabläufe behindert statt diese zu unterstützen, hat die Ärzteschaft endgültig die Nase voll. Und auch für die Gematik hatte die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) im Vorfeld des Deutschen Ärztetags am Montag (23. Mai) harsche Kritik im Gepäck.
Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte hätten schon einige Kapriolen von Gesetzgeber und Co. erlebt, erklärte etwa Dr. Petra Reis-Berkowicz, Vorsitzende der KBV-Vertreterversammlung. „Was allerdings in den letzten Wochen an falschen Entscheidungen – letztendlich auch aus dem Bundesgesundheistministerium (BMG) – getroffen wurde, ist eine Zumutung“, so Reis-Berkowicz. “Die Gematik erwartet die Präzision einer Marsmission, stellt aber nur den Standard eines Commodores 64 zur Verfügung“, brachte sie es auf den Punkt.
Auch KBV-Chef Dr. Andreas Gassen kritisierte die Politik rund um die TI. Es fehle ein Masterplan. Eigentliches Ziel müsse sein, die medizinische Versorgung zu verbessern. Dies würde den Gematik-Chef, Dr. Markus Leyck Dieken, offenbar aber gar nicht interessieren.
Harsche Kritik am Vorgehen der Gematik
Dies zeige sich unter anderem am kürzlich bekannt gewordenen Vorhaben, den Rollout des elektronischen Rezepts (E-Rezept) am 1. September flächendeckend in den KV-Regionen Bayern und Schleswig-Holstein zu beginnen. Mit den KVen wurde vorab nicht gesprochen.
„Und das Ganze in einer Phase, in der viele Praxen schon das Ärgernis eines Konnektoraustauschs bewältigen müssen – eine weitere völlige Fehlplanung, die die Gematik zu verantworten hat!“, bemängelte der KBV-Chef.
Von Bundesgesundheitsminister Dr. Karl Lauterbach (SPD) forderte Gassen ein Machtwort gegenüber der Gematik. Es bedürfe einer kompletten Neuausrichtung des Prozesses und „eines Machtwortes des Bundesgesundheitsministeriums in Richtung Gematik“, sagte Gassen. Der Schwanz dürfe hier nicht länger mit dem Hund wedeln.
Gänzlich positiver Einsatz nur in zwei Praxen
Auch KBV-Vorstandsmitglied Dr. Thomas Kriedel ging mit der Politik und der Gematik rund um die TI ins Gericht. Bei den vielen Pannen rund um die TI könne man schon nicht mehr von Ernüchterung sprechen, so Kriedel. Vielmehr müsse man sagen: „Es ist eine Katastrophe.“ Das E-Rezept werde beispielsweise bislang in nur wenigen Praxen erprobt.
Die Hälfte der bisherigen erfolgreichen E-Rezepte stammten dabei aus nur zwei Praxen. Das bedeute, dass ein Rollout ab dem 1. September sich auf eine erfolgreiche Erfahrung von 0,019 Prozent aller Praxen stütze. „Das kann so nicht weitergehen“, erklärte Kriedel.
Vielmehr müsse bei der TI eine grundlegende Kurskorrektur her. Dazu gehörten unter anderem folgende Punkte: Eine Fokussierung auf die Versorgung, eine umfassende Einbindung der Betroffenen, die Bereitstellung der TI-Infrastruktur bis zur „virtuellen Praxistür“ und Finanzierung durch den Staat, eine vorgezogene Neuausrichtung der Gematik, um die TI-Fortschritte zentral gesteuert voranzubringen, eine gleichwertig Steuerung der Angebotsseite im Sinne einer konsequenten Marktpolitik.
Resolution zur Gematik verabschiedet
Damit die TI den Patienten und Praxen dient, haben die KBV-Delegierten die Resolution zur Gematik: “Versorgungsorientierte Digitalisierung – transparente und nachvollziehbare Entscheidungen sicherstellten – die Gematik muss allen Gesellschaftern dienen” verabschiedet.
Hierin fordern die Vertreter unter anderem, dass die Digitalisierung die Arbeitsabläufe in den Praxen verbessern helfen müssen und den Ärztinnen und Ärzten nicht noch mehr Bürokratie aufhalsen.
Außerdem müsse Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sein Versprechen einhalten, dass nur Digitalisierungsprojekte in die flächendeckende Versorgung kommen sollen, deren volle Funktionsfähigkeit abschließend gewährleistet sei. Bei ihren Entscheidungen dürfe die Gematik zudem nicht die Interessen der Gesellschafter übergehen.
KBV gibt BMG und Gematik Besen an die Hand
Um den aktuellen „Scherbenhaufen“ aufkehren zu können, hat die KBV außerdem die Resolution: “TI jetzt zukunftsfähig gestalten – Schnellprogramm für akute Probleme, Kurskorrekturen beider Strategien” verabschiedet. Der TI-Plan soll dem BMG und der Gematik als sofort einsetzbarer Besen dienen.
Die Punkte des Plans sind:
- Die Praxen brauchen funktionierende Anwendungen. Hierfür fordern wir ein verbindliches Testkonzept für sämtliche Komponenten und Anwendungen – also inklusive sämtlicher Komponenten-Kombinationen – und einen kontrollierten Rollout-Prozess, für die wir unsere Expertise anbieten.
- Die Praxen brauchen angesichts der vorherrschenden Abhängigkeit von der Industrie Unterstützung und Abhilfe. Wir fordern daher unter anderem einen Herstellergipfel im Bundesgesundheitsministerium, in dem sich insbesondere die Anbieter der Dienste und Anwendungen auf eine reibungslose Implementierung der Anwendungen verpflichten. Gegebenenfalls kann auch über geeignete finanzielle Anreize gesprochen werden, die zuletzt bei der Umsetzung der Impfzertifikate-Software zu einer schnellen Bereitstellung beigetragen haben.
- Die Praxen brauchen Transparenz und Verlässlichkeit. Das tagesaktuelle Online-Reporting der Gematik muss daher um den Aspekt der TI-Fähigkeit sämtlicher Praxisverwaltungssysteme im Hinblick auf die einzelnen Anwendungen erweitert werden. Dieses soll als Grundlage für alle weiteren Entscheidungen dienen.
- Die Praxen brauchen eine zentrale Info-Hotline der Gematik, bei der sie anrufen können, wenn sie TI-Probleme feststellen. Diese Hotline muss in der Lage sein, schnell und konkret festzustellen, wo die Problemursache liegt und bei Problemen der TI unmittelbar helfen. Bei anderen Fehlerursachen hat sie umgehend mitzuteilen, wer der richtige Ansprechpartner ist.
- Die Praxen brauchen rechtzeitig einen reibungslos für sie organisierten und vollumfänglich finanzierten Austausch der Konnektoren, der in jeglichen Rollout-Szenarien zu berücksichtigen ist.
- Die Praxen brauchen kompetente IT-Dienstleister vor Ort, die sich mit der TI auskennen. Da die TI federführend vom BMG verantwortet wird, sollte das BMG gemeinsam mit den anderen Ressorts in der Bundesregierung eine Fachkräfte- und Qualifizierungsoffensive initiieren.
- Die Praxen brauchen Unterstützung, um die neuen Anwendungen in den Praxisalltag zu integrieren. Zudem brauchen sie Entlastungen bei der Information der Patientinnen und Patienten über neue Anwendungen. Daher bedarf es zweier Informationskampagnen, einmal seitens der Hersteller mit CME-Punkten für die Praxen und einmal seitens der Krankenkassen zur Aufklärung ihrer Versicherten.
- Die Praxen brauchen zeitnah eine gesetzliche Klarstellung darüber, dass ihre Verantwortung für den Datenschutz nur so weit reicht, wie sie es auch beeinflussen können.