Das Wichtigste auf einen Blick
- Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) soll reformiert werden: Ein Ziel des Koalitionsvertrags von Union und SPD ist es, ihn manipulationssicher zu machen.
- Über Manipulationen der Kodierungen haben Krankenkassen versucht, höhere Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds zu erhalten. Dabei wird immer wieder der Vorwurf laut, auch Ärztinnen und Ärzte seien an den Manipulationen beteiligt.
- Der Deutsche Hausärzteverband, Kassenärztliche Bundesvereinigung und weitere Ärzteverbände stellen sich nun geschlossen gegen diese Betrugsvorwürfe.
Berlin. Geschlossen haben der Deutsche Hausärzteverband, die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) sowie weitere Ärzteverbände ein sofortiges Ende der Betrugsvorwürfe gegen Ärzte bei Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds gefordert. „Wir verbitten uns, in dem Verteilungskampf, den die Krankenkassen untereinander führen, die Ärzte des Betrugs zu bezichtigen und weisen die Vorwürfe auf das Schärfste zurück“, betonten die Vorstände am Montag (18. Februar) in einer gemeinsamen Mitteilung.
Hintergrund ist die anstehende Reform des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA). Etwa die Hälfte der Mittel aus dem Gesundheitsfonds wird aufgrund dieses Mechanismus verteilt. Sehr vereinfacht gesagt folgt dieser der Logik, dass eine Krankenkasse umso mehr Geld aus dem Fonds erhält, je kränker ihre Versicherten sind. Demnach ist es für eine Kasse beispielsweise “attraktiver”, wenn ein chronisches LWS-Syndrom als chronisches Schmerzsyndrom verschlüsselt wird. Die Morbidität eines Versicherten erfasst aber der Arzt zur Dokumentation der Behandlung als ICD-Code in der Patientenakte.
In der Diskussion der Morbi-RSA-Reform geht es auch um die Versuche einiger Krankenkassen, durch Manipulationen der Kodierungen höhere Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds zu erhalten – und die in diesem Zusammenhang von Kassen geäußerten Vorwürfe, Ärztinnen und Ärzte seien für die vorgeworfenen Manipulationen mitverantwortlich. Den Stein ins Rollen gebracht hatte im Oktober 2016 Dr. Jens Baas, Vorsitzender der Techniker Krankenkasse, mit seiner Äußerung, dass zwischen den Krankenkassen ein Wettbewerb entstanden sei, wer es schaffe, die Ärzte zum Dokumentieren möglichst vieler Diagnosen zu bringen.
Verbände bilden breite Front gegen Vorwürfe
Deutscher Hausärzteverband und KBV fordern in der Debatte nun ein sofortiges Ende dieser Betrugsvorwürfe gegenüber Ärztinnen und Ärzten. Der Hartmannbund, der Spitzenverband der Fachärzte Deutschlands, der NAV-Virchow-Bund sowie MEDI GENO Deutschland unterstützen diese Forderung und zeigen sich gleichfalls empört über die Vorwürfe. „Die Krankenkassen haben ein Interesse an den Zuweisungen aus dem Morbi-RSA und nicht die Ärzte“, stellen Dr. Stephan Hofmeister, Vorstand der KBV, Ulrich Weigeldt, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes, Dr. Klaus Reinhardt, Vorsitzender des Hartmannbundes, Dr. Dirk Heinrich, Vorstandsvorsitzender des Spitzenverbandes der Fachärzte Deutschlands und Bundesvorsitzender des NAV-Virchow-Bundes, sowie Dr. Werner Baumgärtner, Vorstandsvorsitzender von MEDI GENO Deutschland, gemeinsam klar.
Bereits mit dem Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (HHVG) war den Krankenkassen verboten worden, zusätzliche Vergütungen nur für Kodierungen zu zahlen. Daraufhin wurden in einigen Regionen sogenannte Betreuungsstrukturverträge der KVen mit einzelnen Krankenkassen beendet. Auch dürfen Krankenkassen seither etwa keine Diagnosen vorschlagen und nicht zu Kodierungen beraten.
Neuer Knackpunkt: Diagnosen als Voraussetzung für Vergütung?
Das vergangene Woche erneut diskutierte, stark umstrittene Terminservice- und Versorgungsstärkungsgesetz (TSVG), das nach aktueller Planung im Mai in Kraft treten soll, will sich des Themas noch einmal annehmen: So soll das bisherige Verbot der Diagnosevergütung in den Paragrafen 73b, 83, 140a SGB V durch einen Änderungsantrag zum TSVG neu formuliert werden. Die Koalition dringt damit auf eine gesetzliche Klarstellung, dass Verträge unzulässig sind, die Diagnosen als Voraussetzung für Vergütungen vorsehen.
Bei den Sachverständigen vor dem Gesundheitsausschuss stieß das auf gemischte Reaktionen: Dass Vergütungen für Leistungen nur noch an einen allgemeinen Krankheitsbegriff anknüpfen dürfen, gefährde speziell auf bestimmte Patientengruppen zugeschnittene Versorgungsformen, gab der AOK-Bundesverband zu bedenken. Diagnosecodes seien eine „Fachsprache der Medizin“. Darauf in Versorgungsverträgen verzichten zu müssen, sei „nicht sachgerecht“. Dagegen begrüßt beispielsweise der BKK-Dachverband die geplante Regelung ausdrücklich, da sie zu einer „manipulationssicheren Ausgestaltung des Morbi-RSA“ beitrage.
RSA-Reform “dringend notwendig”
Den RSA weiterzuentwickeln, haben sich Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag zum Ziel gesetzt. Zentrales Anliegen: den Mechanismus vor Manipulationen zu schützen. “Es mag ja sein, dass einige Krankenkassen versucht haben, Einfluss auf die Kodierungen der Ärzte zu nehmen – Jens Baas hatte hier ja alle Krankenkassen, auch die eigene, der Manipulation bezichtigt“, erklärt nun Hausärzte-Chef Weigeldt dazu. „Dass aber die Ärzteschaft für dieses betrügerische Vorgehen beschuldigt wird, ist ungeheuerlich.“
Für KBV-Vorstandsvize Hofmeister ist die Reform des Morbi-RSA „dringend notwendig“. Das jetzige System „lädt offenbar einige Krankenkassen dazu ein, nicht mehr den Patienten und seine Versorgung im Vordergrund zu sehen, sondern ausschließlich schlechte oder gute Versicherungsrisiken“.
Link-Tipp
Mit dem Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (HHVG) hat das Bundesgesundheitsministerium 2017 die Regeln für das Kodieren von Diagnosen enger gefasst. Was Hausärzten seither noch erlaubt oder verboten ist, erklärt Joachim Schütz, Justiziar des Deutschen Hausärzteverbands, unter https://hausarzt.link/hrhKQ