Forum PolitikHausärzte: Supervisoren für Praxisteam und Patienten

Wer in den Niederlanden krank ist, konsultiert zuerst seinen Hausarzt. Dieser behält den Überblick und leitet Patienten durchs System. Besonders qualifizierte Praxismitarbeiter entlasten den Allgemeinmediziner, aber auch hier behält er immer alles im Blick. Ein Besuch bei unserem Nachbarn.

Ich steige aus dem Zug, hinein in die Menschenmasse des Bahnhofs. Es ist Rushhour, ich bahne mir einen Weg. Die Sprache klingt vertraut und doch anders. Amsterdam. Auf dem Bahnhofsvorplatz Amsterdam Centraal sehe ich etwas, was ich zwar von daheim kenne, aber nicht in dieser Menge: Fahrräder. „Wir sind auf dem Fahrrad geboren“, sagt die Lebensgefährtin meines Gastgebers, der mir in den nächsten Tagen die niederländische Allgemeinmedizin zeigen wird. Er, selbst Arzt in Weiterbildung und ursprünglich aus Nigeria stammend, hat sich als gastgebender Arzt für den LOVAH-Austausch angeboten – ein Austauschprojekt der De Landelijke Organisatie Van Aspirant Huisartsen (LOVAH).

Die LOVAH ist das Pendant der Jungen Allgemeinmedizin Deutschland (JADE), beides Vereinigungen für junge Allgemeinmediziner. Der LOVAH-Austausch wird über die Plattform des Vasco da Gama Movements (VdGM, s. Kasten 2) unter angehenden Hausärzten in Europa bekannt gemacht. Als Teilnehmerin kann ich die hausärztliche Tätigkeit in den Niederlanden kennenlernen und den jährlichen LOVAH Kongress besuchen.

Am nächsten Morgen fahre ich mit meinem Gastgeber nach Den Haag, er arbeitet in einer Hausarztpraxis in einem „Problemviertel“ mit vielen Migranten. Gleich fällt mir auf: Die Praxis besteht aus einem großen Team -vier Fachärzte für Allgemeinmedizin und drei Ärzte in Weiterbildung. Sie werden entscheidend von einem gut ausgebildeten Team von Krankenschwestern und/oder Arztassistenten sowie von Praxissekretärinnen unterstützt. Letztere koordinieren die Termine und nehmen Blut ab. Bei der Terminvergabe teilen sie selbstständig die Patienten nach Dringlichkeit der Konsultationsanlässe ein.

Dies geschieht oft telefonisch mit Unterstützung eines ausführlichen Triage-Tools. Mit dessen Hilfe werden die vom Patienten geschilderten Symptome nach einem Ampelsystem eingestuft – rot für dringlich, gelb für subakut und grün für elektive Terminvergaben. Dieses Tool erlaubt so auch Personal mit moderater medizinischer Vorbildung eine fundierte Triage und wurde von der niederländischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (NHG; Nederlands huisarten Genootschap ) explizit für die Primärversorgung entwickelt.

Versorgung unter Supervision des Hausarztes

Darüber hinaus lerne ich Physician assistants kennen. Sie sind Praxismitarbeiter mit einem Bachelorabschluss in Pflegewissenschaften oder anderen Gesundheitsberufen, die nach einer gewissen klinischen Erfahrung Absolvierung eines 30-monatigen, strukturierten Trainings den Hausarzt vor allem in der Therapie von chronisch kranken Patienten unterstützen. So beraten sie Diabetiker oder Patienten mit arterieller Hypertonie etwa zu ihrem Lebensstil.

Des Weiteren treffe ich Krankenschwestern (Nurse consultants). Sie haben in der Regel einen Masterabschluss in Pflegewissenschaften, können eigenständig Basisdiagnostik inklusive Basislabor vornehmen und in gewissem Umfang Therapieentscheidungen treffen, die auch die Verschreibung von Medikamenten umfassen. Sie arbeiten größtenteils selbstständig, formal aber unter Supervision des Hausarztes. Er prüft die Konsultationen der Physician assistants und Nurse consultants formal via elektronischer Patientenakte. Nurse consultants dürfen Hausärzte sogar während des ambulanten Notdienstes ersetzen, solange auch hier Hausärzte für Rücksprachen zur Verfügung stehen.

Die Sprechstunde beginnt. Das Sprechzimmer ist einfach eingerichtet – ein Computer, ein paar Bücher, eine Untersuchungsliege, Otos- und Stethoskop. In der Hausarztpraxis zu sonografieren, sei nicht üblich in den Niederlanden, erklärt mein Gastgeber. Es kommen Familien, geriatrische Patienten und kleine Kinder in die Sprechstunde. In den Niederlanden versorgen Hausärzte Patienten „von der Wiege bis zur Bahre“. Bei medizinischen Fragen ist die Hausarztpraxis die erste Anlaufstelle, wobei Hausärzte wie „Türhüter“ agieren: Für die Konsultation eines Spezialisten ist also eine Überweisung vom Hausarzt nötig.

Ähnlich wie in Dänemark oder Großbritannien schreiben sich die Patienten in Listen bei der Hausarztpraxis ihres Viertels ein. Mir fällt auf, dass viel Zeit für Gespräche mit Patienten bleibt, da andere Teammitglieder übliche zeitintensive Gespräche wie Lebensstilveränderungen übernehmen. Im Schnitt sind die Patienten alle 15 bis 20 Minuten bestellt. Viele haben wie in Deutschland komplexe medizinische oder psycho-soziale Probleme. Deshalb haben sich in einigen Stadtteilen auch Primärversorgungszentren etabliert – Hausarztpraxen mit Sozialarbeiter, Psychologe und Zahnarzt.

Zudem engagieren sich Kommunen stark in der Versorgung: In einigen sind extra Fachärzte explizit nur für Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen bei Kindern und Jugendlichen angestellt (consultatiebureau arts). Werden Termine versäumt, erfolgen in einigen Kommunen Hausbesuche zur Untersuchung bei den Eltern. So etwa in Amsterdam, berichtet mir eine niederländische Kollegin.

Teils gibt es lokale Projekte zur „Gemeindemedizin“, in denen Kommune und Hausärzte sich für Projekte zusammenschließen. So darf ich nach der Vormittagssprechstunde einen Praxispartner auf eine Sitzung begleiten, um ein solches Projekt vorzubereiten. Es soll das Gesundheitsverhalten von sozial schwachen Familien verbessern und die Therapieadhärenz von chronisch kranken Kindern und Jugendlichen stärken. Nach der Mittagspause geht die Sprechstunde weiter bis zum Abend. In der Regel, berichtet mein Gastgeber, betragen die Sprechzeiten täglich acht Stunden – deutlich länger als in Deutschland. Im Gespräch mit ihm erfahre ich außerdem, dass der Verdienst in der Weiterbildung deutlich unter dem in Deutschland liegt.

Drei Jahre Weiterbildung

Durch das Austauschprogramm treffe ich weitere Teilnehmer aus verschiedenen europäischen Ländern. Alle sind entweder junge Fachärzte oder Ärzte in allgemeinmedizinischer Weiterbildung (ÄiW). In einem Workshop stellt jeder Teilnehmer das Gesundheitssystem aus dem Heimatland und die Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin vor. Natürlich steht die niederländische Allgemeinmedizin in einem besonderen Fokus (s. Kasten 1 im PDF).

Wir diskutieren auch die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Facharztweiterbildung – in den Niederlanden dauert diese beispielsweise drei Jahre. ÄiW werden hier durch Seminare und Koordination des jeweiligen regionalen Instituts für Allgemeinmedizin an insgesamt acht Universitäten betreut. Im ersten und dritten Jahr der Weiterbildung arbeiten die ÄiW in der Hausarztpraxis, dazwischen in der Klinik, wobei diese Zeit zwischen Akutversorgung, Einheiten zur Versorgung chronisch kranker Patienten und Psychiatrie aufgeteilt ist.

Während der gesamten Weiterbildung kehren die ÄiW wöchentlich für einen Tag an die Universität für Seminare zurück. Die Seminare umfassen medizinische Probleme sowie klinische und kommunikative Fähigkeiten. An den Austausch schließt sich der Jahreskongress der LOVAH an. Daran nehmen rund 1.000 junge Ärzte in Weiterbildung für Allgemeinmedizin oder junge Hausärzte teil. Der Kongress beeindruckt mit inhaltlicher Vielfältigkeit: Die Vorträge und Workshops reichen von der Therapie der Adipositas in der Hausarztpraxis, Interventionen zur Reduktion der Antibiotikaverschreibungsrate bis zur Expeditionsmedizin. Das fachliche Niveau der Vorträge ist sehr hoch und die Themen für die Praxis meist relevant.

In den Sessions können junge Allgemeinmediziner ihre eigenen Forschungsergebnisse vorstellen. Jährlich verleiht die NHG sogar einen Preis für die beste Forschungsarbeit eines jungen Hausarztes sowie die beste Frage, die einen jungen Allgemeinmediziner in seiner Praxis umtreibt. Der LOVAH Kongress ist aber nicht frei vom Einfluss der pharmazeutischen Industrie.

Fazit

Der Austausch lohnt sich. Die niederländische Allgemeinmedizin über einen LOVAH Austausch des VdGM kennenzulernen war inspirierend, insbesondere die Zusammenarbeit zwischen Hausarzt und Praxispersonal zu erleben, das deutlich mehr Kompetenzen als in der deutschen Hausarztpraxis hat. Der Austausch mit Kollegen aus anderen Ländern fördert die Reflexion über die Strukturen, Errungenschaften und Verbesserungsmöglichkeiten im eigenen Gesundheitssystem. Interessant sind die Berufszweige des Physician Assistants und Nurse consultants, um künftig die älter werdende Bevölkerung gut versorgen zu können. Interessanterweise wurden die Physician Assistants Anfang der 2000er Jahre in den Niederlanden ebenfalls unter dem Gesichtspunkt eines erhöhten Versorgungsbedarfes neu eingeführt.

Das niederländische Primärversorgungssystem

Steuerfinanziert, Kombination aus capitation und fee for service (eine umfangreiche Basisversicherung mit Option zur privaten Zusatzversicherung).

  • Basisversicherung trägt die Behandlung durch den Hausarzt.
  • „gate keeping“: Hausärzte sind erste Ansprechpartner für Patienten; Überweisung für Spezialisten und stationäre Behandlung inkl. Rehabilitation (sekundärer/tertiärer Behandlungssektor) notwendig.
  • Hausärzte behandeln mehr als 90 Prozent der Gesundheitsbeschwerden, mit denen ein Patient das Gesundheitssystem frequentiert.
  • Etwa vier Prozent der kontaktierenden Patienten werden in den sekundären Behandlungssektor überwiesen.
  • Patienten schreiben sich beim Hausarzt in die Patientenliste ein.
  • 51 Prozent der Hausärzte arbeiten in Gruppenpraxen mit drei bis sieben weiteren Hausärzten.
  • Im Schnitt sind etwa 2.300 Patienten pro Hausarzt gelistet, Patienten besuchen durchschnittlich fünf Mal ihren Hausarzt pro Jahr.
  • Mehr als 8.200 Hausärzte für mehr als 16 Millionen Einwohner.
  • Vergütung der Hausärzte erfolgt aus „Kopfpauschale“ für jeden eingeschriebenen Patienten (Vorhaltung medizinischer Expertise) und Konsultations-bezogener Bezahlung (sowohl für Hausarzt als auch für Nurse).
  • Elektronische Patientenakte.

Quelle: Schäfer W, Kronemann M, Boerma W, van den Beerg M, Westert G, Devillé W, van Ginneken E, Health in Transition: The Netherlands – Health Systems Review. 2010

Austauschprogramme des Vasco da Gama Movement

Preconference Exchanges

  • Europa- und weltweites Austauschprogramm im Vorfeld von nationalen Konferenzen der gastgebenden Länder, beinhaltet kurze Hospitation in Hausarztpraxis und Einladung zur Kongressteilnahme. Austausch mit Kollegen aus vielen Ländern möglich
  • Bietet einen breiten Überblick über verschiedene Systeme der Primärmedizin
  • Dauer i.d.R. zwei bis drei Tage, Kosten: Eigenbeteiligung von 100-300 Euro für Verpflegung und Kongressgebühr. Anreisekosten, Unterkunft wird häufig kostengünstig oder kostenfrei organisiert.

Hippokrates Programm

  • Europaweites Programm, ein- bis zweiwöchige Hospitation in einer europäischen Hausarztpraxis
  • Intensiveres Kennenlernen eines nationales Primärversorgungssystems möglich
  • Koordination über den nationalen Austauschkoordinator des Gastlandes
  • Unterkunft wird teilweise vor Ort kostengünstig oder kostenfrei organisiert, Anreise- kosten sind zu tragen
  • ein Austauschbericht ist verpflichtend

Teilnahmebedingungen

  • Ärzte in Weiterbildung oder junge Hausärzte (bis zu fünf Jahre nach dem Facharzt) können ins Ausland gehen
  • Interessierte Fachärzte können ausländische Kollegen für eine kurze Hospitation in ihrer Praxis empfangen (E-Mail an: hippokrates-germany@gmx.de) Weitere Infos und Angebote gibt es über die AG Internationales oder die Regionalgruppenverteiler der JADE und auf Lwww.jungeallgemeinmedizin.de (Rubrik: Internationales).

Quelle: www.vdgm.eu

Dr. Solveig Carmienke, FÄ für Allgemeinmedizin, Halle; Nationale Austauschkoordinatorin Hippokrates Programm des VdGM; Sektion für Allgemeinmedizin, Institut f. Epidemiologie, Medizinische Statistik und Informatik, Halle

Literatur

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