Kommentar zur Heilmittel-Richtlinie„Eine entbürokratisierte Regressgefahr!“

Die neuen Heilmittel-Vorgaben werden als Entlastung für Arztpraxen vermittelt. Die Entrümpelung der Richtlinie hat aber auch gravierende Nachteile, meint Experte Dr. Gerd W. Zimmermann. So könnten einige Änderungen das Regressrisiko steigern.

Berlin. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine neue Heilmittel-Richtlinie beschlossen. Die Änderungen werden zwar erst am 1. Oktober 2020 in Kraft treten, die Neuerungen beinhalten aber eine nicht unerhebliche Regressgefahr, auf die man sich rechtzeitig vorbereiten sollte.

Grundsätzlich muss man bei Entscheidungen des G-BA vorsichtig sein. In diesem Gremium sitzen paritätisch Ärzte und Kassenvertreter und die Letztgenannten akzeptieren nichts, was nicht zumindest teilweise für die Kassen vorteilhaft ist. So ist das offensichtlich auch bei der Vereinbarung zur neuen Heilmittel-Richtlinie der Fall.

Schließlich firmiert sie unter der Überschrift „Entbürokratisierung“ – die durchaus gelungen ist. Nicht thematisiert werden dabei aber andere Aspekte wie insbesondere die mit der Heilmittelverordnung verbundene Regressgefahr: Im Hinblick darauf stellt diese neue Richtlinie teilweise aber eine bedenkliche Steigerung dar:

  1. Es wird nicht mehr zwischen Erstverordnung, Folgeverordnung und Verordnung außerhalb des Regelfalls unterschieden. Damit entfällt sowohl die Anrechnung von Vorverordnungen als auch die Begründungspflicht bei Verordnungen über die Gesamtverordnungsmenge hinaus. Aber schon der damit verbundene Wegfall des Genehmigungsverfahrens für Verordnungen außerhalb des Regelfalls steigert massiv die Regressgefahr. Man kann keine Begründungen mehr auf der Verordnung angeben, sondern dokumentiert in der Patientenakte die Gründe für den höheren Heilmittelbedarf. Da es künftig einen Verordnungsfall und daran geknüpft eine sogenannte „orientierende Behandlungsmenge“ gibt, hat man bei einem Prüfantrag des Prüfgremiums, auch wenn der jetzt nur noch zwei Jahre rückwirkend möglich ist, noch weniger Chancen, ohne Regress davon zu kommen, weil die Begründung für eine Mengenüberschreitung nicht schon vorliegt, sondern erst nachgeliefert werden muss. Der Arzt muss sich (weiterhin) bei der Heilmittelverordnung an einer Mengenvorgabe orientieren und nur, wenn er einen medizinischen Bedarf des Patienten sieht, kann er davon abweichen. Ob dieser Bedarf hinterher anerkannt wird, bleibt wie bisher der mitunter willkürlichen Betrachtung der Prüfärzte vorbehalten.
  2. Auch dass nicht mehr zwischen kurz-, mittel- und längerfristigem Behandlungsbedarf unterschieden wird, steigert eher die Regressgefahr. Denn bisher wurde der längerfristige Behandlungsbedarf als Praxisbesonderheit anerkannt. Allenfalls bürokratisch etwas entlastend wirkt, dass bereits verordnete Behandlungsmengen nicht mehr aufgerechnet werden müssen und der Wechsel der Diagnosegruppen entfällt.
  3. Die Regelung, dass nur noch zwischen „vorrangigen“ und „ergänzenden“ Heilmitteln unterschieden wird, da die optionalen in die vorrangigen Heilmittel integriert werden, eröffnet die Möglichkeit für eine Verordnungsprüfung, die es bisher überhaupt noch nicht gab. Wer Anwendungskombinationen verordnet, muss dies ggf. später bei einer Prüfung rechtfertigen.
  4. Auch die neue Definition des „behandlungsfreien Intervalls“ (bislang zwölf Wochen) ist nicht unbedingt als Verbesserung zu sehen. Künftig soll das Datum der letzten Heilmittelverordnung maßgeblich sein und wenn es noch keine sechs Monate zurückliegt, wird der bisherige Verordnungsfall fortgeführt. Da die „orientierende Behandlungsmenge“ dann ebenfalls weiter gilt, hilft diese „Vereinfachung“ eher den Prüfärzten, die damit einen Regress besser sozialgerichtsfest machen können. Praxen sollten deshalb immer das letzte Verordnungsdatum in der Verordnungssoftware speichern. So wird deutlich, wann die sechs Monate vorbei sind und damit ein neuer Verordnungsfall beginnt.
  5. Der G-BA rühmt sich damit, geklärt zu haben, dass sich ein Verordnungsfall auf den verschreibenden Arzt bezieht. Das ist deswegen bedenklich, weil dies dann offensichtlich derzeit unterschiedlich interpretiert wird: So scheint es momentan möglich zu sein, dass Verordnungsmengen desselben Regelfalls auch von anderen Ärzten berücksichtigt werden müssen. Das heißt, Heilmittelverordnungen des Orthopäden würden mit denen des Hausarztes zusammengeführt und umgekehrt. Hier ist deshalb schon jetzt höchste Vorsicht geboten!
  6. Als Erfolg wertet der G-BA auch, dass Ärzte künftig mehrere unterschiedliche Leitsymptomatiken auf einer Verordnung angeben oder alternativ eine patientenindividuelle Leitsymptomatik formulieren können. Dabei folgt die Einschränkung dieser scheinbaren Befreiung auf dem Fuß: Solche individuellen Angaben müssen nämlich die Leitsymptomatik des Heilmittelkatalogs widerspiegeln.
  7. Worin der Vorteil bei einer Mengenbremse durch die Wirtschaftlichkeitsprüfung liegt, künftig bis zu drei vorrangige Heilmittel gleichzeitig verordnen zu können, leuchtet nicht unbedingt ein.

Fazit

Sollte diese neue Heilmittel-Richtlinie tatsächlich zum 1. Januar 2020 in dieser Form kommen, ist es ratsam,

  • sich strikt an die Vorgabe der „orientierenden Behandlungsmenge“ zu halten,
  • keine fixen Kombinationen aus „vorrangigen“ und „ergänzenden“ Heilmitteln zu verordnen,
  • das „behandlungsfreie Intervall“ konsequent einzuhalten und
  • kein Rezept für mehr als ein vorrangiges Heilmittel auszustellen.

Macht man das nicht, muss man zwar zunächst auch weiterhin nur mit einer Beratung rechnen (Grundsatz „Beratung vor Regress“). Man hat aber nur diesen einen „Schuss“ und selbst ein Regress, der nur zwei Jahre zurückreicht, kann weiterhin die Existenz der Praxis bedrohen!

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