Forum PolitikDer HZV-Effekt

Weniger schwere Komplikationen wie Schlaganfälle, Herzinfarkte und Amputationen sowie weniger Klinikeinweisungen: Die Hausarztzentrierte Versorgung (HZV) von Hausärzteverband, MEDI und AOK in Baden-Württemberg zeigt deutliche Effekte gegenüber der Regelversorgung. Die Acht-Jahres-Bilanz der Universitäten Frankfurt/Main und Heidelberg macht immer deutlicher: Vor allem die Patienten profitieren.

Die Hausarztzentrierte Versorgung (HZV) in Baden-Württemberg verbessert die medizinische Versorgung, stärkt die Rolle des Hausarztes und steigert die Effizienz! Das zeigt der dritte Evaluationsbericht, den die beiden Professoren Ferdinand Gerlach, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt a.M., und Joachim Szecsenyi, Ärztlicher Direktor der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung am Uni-Klinikum Heidelberg, erstellt haben.

Die Untersuchungen zeigen, dass der politische Wille des Gesetzgebers zur HZV erfolgreich umgesetzt werden kann und bei den Patienten ankommt. Die HZV trage zu einer spürbaren finanziellen Entlastung bei, indem Über-, Fehl- und Unterversorgung systematisch abgebaut werden, heißt es in dem Bericht, den Gerlach und Szecsenyi Mitte Juni bei einer Pressekonferenz vor rund 40 Journalisten in Berlin einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt haben.

Der bundesweit erste HZV-Vertrag wurde im Mai 2008 unterzeichnet. Vertragspartner sind die AOK Baden Württemberg, der baden-württembergische Hausärzteverband, MEDI Baden Württemberg und die HÄVG Hausärztliche Vertragsgemeinschaft AG. Mittlerweile nehmen rund 4.000 Haus- und Kinderärzte und etwa 1,4 Millionen AOK-Versicherte teil. "Die HZV ist die mit Abstand wichtigste Errungenschaft der letzten 20 bis 30 Jahre", betonte Dr. Berthold Dietsche, Vorsitzender des Hausärzteverbandes Baden-Württemberg. "Sie bietet den Hausärzten neue Rahmenbedingungen, die unseren Beruf umfassend aufwerten: Mehr Zeit für Patienten durch weniger Abrechnungsaufwand, mehr Qualität durch eine wirkungsvolle VERAH-Unterstützung und nicht zuletzt mehr Honorar, das planbar und auf den Behandlungsbedarf zugeschnitten ist. In Baden-Württemberg gibt es heute kaum noch eine Praxis, der es ohne eine fest etablierte HZV gelingt, einen Nachfolger zu finden", so Dietsche in Berlin.

Weniger Komplikationen bei Diabetes

Jetzt lagen erstmals Daten vor, die eine Beurteilung einzelner Qualitätsparamater bei der Versorgung chronisch Kranker über einen längeren Zeitraum erlauben, erläuterte Gerlach.

Die intensivere Betreuung von chronisch Kranken in der HZV führt im Vergleich zur Regelversorgung zu nachhaltig besseren Ergebnissen. "Es zeigt sich nun erstmalig, dass in der HZV-Gruppe bei 119.000 Diabetikern im Verlauf von drei Jahren gut 1.700 schwerwiegende Komplikationen vermieden werden können", so Gerlach. Konkret blieben diesen Patienten im Zeitraum 2011 – 2013 etwa 500 Schlaganfälle, 450 Herzinfarkte, 389 Nephropathien, die zur Dialyse geführt hätten, sowie 260 Amputationen und 139 Erblindungen erspart.

Ein Grund hierfür ist die deutlich stärkere Teilnahme an Disease Management-Programmen: In der HZV lag die DMP-Teilnahmequote bei Typ-2-Diabetikern zu Beginn des Betrachtungszeitraums (2011) bei 77,8 Prozent, in der Kontrollgruppe aus der Regelversorgung waren es lediglich 53,9 Prozent.

Durch die DMP-Teilnahme haben Hausärzte mehr Erfahrungen in der Vernetzung mit fachärztlichen Kollegen, erläuterte Gerlach. Darüber hinaus gibt es spezifische HZV-Effekte, so der Wissenschaftler: Patienten sind enger und kontinuierlicher an den Hausarzt gebunden, Behandlungsentscheidungen werden gemeinsam getroffen und die HZV-Ärzte sind besser über aktuelle Leitlinien informiert.

Deutliche Reduktion unnötiger Krankenhauseinweisungen

Die Stärkung der Hausarztrolle zeigt sich nach Darstellung des Heidelberger Wissenschaftlers auch an der Schnittstelle zum stationären Sektor. Ein wichtiger Indikator hierfür sind "vermeidbare Krankenhauseinweisungen". Dabei handelt es sich um Krankheitsbilder, bei denen eine stationäre Einweisung bei einer adäquaten ambulanten Versorgung nur ausnahmsweise notwendig ist. Als Beispiel nannte Szecsenyi die COPD, bei der durch eine engmaschige Kontrolle des Hausarztes eine Verschlechterung frühzeitig erkannt und therapiert werden kann. Von 2011 bis 2014 lag die Anzahl vermeidbarer Krankenhauseinweisungen in der HZV pro Jahr jeweils um gut einen Prozentpunkt niedriger. Bezogen auf eine Million HZV-Versicherte sind dies insgesamt rund 40.000 Fälle (siehe Tab. 1). Davon entfallen allein pro Jahr rund 3.900 auf die Indikationen KHK und Herzinsuffizienz. "Ich führe das auf die intensivere Betreuung chronisch kranker Patienten durch den Hausarzt zurück". Die Zahlen zeigten, dass selbst vergleichsweise klein erscheinende Unterschiede insgesamt für eine große Zahl von Versicherten relevant und für Betroffene auch konkret spürbar seien, so Szecsenyi.

Enges Zusammenspiel von Haus- und Fachärzten

Die stationäre Behandlung von KHK-Patienten lasse sich zwar nicht gänzlich vermeiden, gleichwohl könne eine gute ambulante Versorgung durch die Zusammenarbeit zwischen Hausarzt und Kardiologen, wie in Baden-Württemberg durch die vertragliche Verbindung von HZV und Facharztverträgen praktiziert, die Zahl von Krankenhauseinweisungen spürbar verringern, erklärte Gerlach.

Die Ergebnisse der Forscher bestätigten die praktischen Erfahrungen, unterstreicht Dr. Werner Baumgärtner, Vorstandsvorsitzender von MEDI Baden-Württemberg und MEDI GENO Deutschland: "Hausärzte und Fachärzte haben in der Regelversorgung gerade für ihre schwer kranken Patienten ein Budget, das schnell aufgebraucht ist, und die Patienten werden immer häufiger ins Krankenhaus abgeschoben. Bei den Hausarzt- und Facharztverträgen im Südwesten gibt es dagegen kein Budget und keine Fallzahlbegrenzungen, sondern eine enge Koordination der Behandlung zwischen Haus- und Fachärzten, die sich an gemeinsamen Behandlungsleitlinien orientiert." In der Studie wurde auch erstmalig untersucht, inwieweit sich daraus eine weitere Verbesserung der HZV-Versorgung ergibt. So zeigte sich etwa bei KHK-Patienten, Patienten mit Vorhofflimmern und nach akutem Herzinfarkt nochmals eine Verstärkung der positiven HZV-Effekte. Parameter waren die Inanspruchnahme spezieller kardiologischer Verfahren (Koronarangiografie und -intervention), Häufigkeit von Krankenhausaufenthalten und die leitliniengerechte Pharmakotherapie.

Weniger unkoordinierte Facharztkontakte – mehr Hausarztkontakte

Dass durch die HZV die versorgungssteuernde Rolle des Hausarztes gestärkt wird, zeigen auch die von Szecsenyi analysierten Zahlen zur Entwicklung der Hausarzt- und Facharztkontakte. Während in der HZV die Zahl der Facharztbesuche ohne Überweisung des Hausarztes im Laufe der Jahre kontinuierlich auf 1,6 im Jahr 2014 gesunken ist, gibt es in der Regelversorgung eine gegenläufige Entwicklung mit einem Anstieg auf 2,7 unkoordinierte Facharztkontakte". Das entspricht einem Unterschied von 40 Prozent zugunsten der HZV-Gruppe (siehe Abb. 1).

Eine Erklärung hierfür könnte die Abschaffung der Praxisgebühr in 2013 sein: In der Regelversorgung wurde die koordinierende Rolle des Hausarztes dadurch anders als in der HZV weiter geschwächt.

Dagegen habe jeder HZV-Patient im Schnitt drei Hausarztkontakte mehr pro Jahr. "Das unterstreicht die intensivere Betreuung durch den Hausarzt und die deutlich stärkere Wahrnehmung seiner Koordinierungs- bzw. Lotsenfunktion für den Patienten", sagte Szecsenyi.

Zielgerichtete Therapie spart Arzneimittelkosten

Ein wesentlicher Bestandteil der HZV sind die mehr als 300 datengestützten strukturierten Pharmakotherapiezirkel, die eine qualifizierte und pharmaunabhängige Fortbildung gewährleisten. Hausärzte, die an der HZV teilnehmen, haben sich verpflichtet, pro Jahr vier dieser Qualitätszirkel zu besuchen, in denen die gemeinsam erarbeiteten Empfehlungen der HZV-Arzneimittelkommission auf der Basis evidenzbasierter Erkenntnisse zur rationalen und risikoarmen Pharmakotherapie vermittelt werden. Mehrere hausarzttypische Indikatoren zeigen, dass die Qualitätszirkelarbeit Zielgerichtetheit und Effizienz der Arzneimitteltherapie signifikant positiv beeinflussen. So wurden älteren Patienten in der HZV seltener potentiell inadäquate Medikamente (PIM) etwa aufgrund einer eingeschränkten Nierenfunktion verordnet. Positive Effekte haben die Wissenschaftler auch im Bereich der Schmerztherapie und bei Anxiolytika ermittelt.

Insgesamt waren die Ausgaben für Pharmakotherapie im ambulanten Bereich für alle Altersgruppen in der HZV für die Jahre von 2011 – 2014 im Durchschnitt rund vier Prozent geringer als in der Regelversorgung. Das sind für 2014 etwa 42 Euro pro Patient. Zu diesem Ergebnis trägt nach Szecsenyis Angaben auch die Vergütungsstruktur der HZV bei, die die Sprechende Medizin ausdrücklich fördert. "Der Arzt hat mehr Zeit, die Verordnung zu erläutern oder zu erklären, weshalb ein anderes Medikament unnötig ist", sagte Szecsenyi.

Bessere Versorgung – niedrigere Kosten

Die Qualitätsverbesserung in der HZV geht einher mit verbesserter Wirtschaftlichkeit. Den höheren ambulanten Kosten der HZV-Gruppe stehen niedrigere Kosten insbesondere im stationären und Arzneimittelbereich gegenüber, die die Mehrausgaben bei ärztlichen Leistungen und im Heilmittelsektor überkompensieren.

"Hausarzt- und Facharztverträge sind seit jeher keine Sparverträge: Wir investieren konsequent in neue patientenorientierte Versorgungsstrukturen und diese Rechnung geht zum Wohle unserer Versicherten auf", lautet das Resümee von Dr. Christopher Hermann, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg.

Allein im vergangenen Jahr habe die AOK 530 Millionen Euro in die Haus- und Facharztverträge investiert. "Seit acht Jahren gestalten wir gemeinsam mit unseren Partnern die Versorgung und übernehmen Verantwortung", sagte Hermann. Das Ergebnis könne sich sehen lassen: Die jährlichen Gesamtkosten für die Versorgung der teilnehmenden Versicherten lagen 2015 35 Millionen Euro niedriger als für eine entsprechende Vergleichsgruppe in der Regelversorgung – und das bei einer insgesamt besseren Versorgung der Patienten. "Bemerkenswert ist dabei wie sich die Vorteile gegenüber der Regelversorgung im Zeitverlauf sogar tendenziell noch vergrößern. Damit wird unterstrichen, dass unsere Selektivverträge tatsächlich eine alternative Regelversorgung darstellen und alles andere als eine Versuchswerkstatt für das Altsystem sind", so Hermann abschließend.

Weitere Vorteile bei älteren Patienten

Die Ergebnisse aus dem Evaluationsbericht zeigen noch weitere Vorteile der HZV gegenüber der Regelversorgung:

  • In der HZV werden mehr Patienten im Alter über 65 Jahre gegen Influenza geimpft.

  • In der Altersklasse der über 65-jährigen traten in der HZV rund 350 hüftgelenksnahe Frakturen weniger auf.

  • Der Anteil der älteren Risikopatienten, die potenziell inadäquate Medikamente (PIM nach der PRISCUS-Liste) verordnet bekamen, war in der HZV 1,62 Prozent geringer.

Die Evaluationsergebnisse haben die Studienleiter in einer Publikation zusammengefasst: ww.neue-versorgung.de

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