Hausärztliche Leitlinie MultimedikationDeprescribing: Wenn weniger mehr ist

Das Verschreiben von Medikamenten ist keine Einbahnstraße. In der Praxis kommt die Gegenrichtung, das Deprescribing, aber bisweilen zu kurz. Die im Sommer 2021 neu gefasste "Hausärztliche Leitlinie Multimedikation" erklärt, wann ein Medikationscheck nötig ist und wie man entbehrliche oder gar gefährliche Wirkstoffe identifiziert und absetzt.

Laut Barmer Arzneimittelreport 2018 erhalten mehr als 90 Prozent aller Versicherten über 80 Jahre dauerhaft fünf oder mehr Medikamente (= Multimedikation). Ursache dafür ist meistens Multimorbidität (= drei oder mehr chronische Erkrankungen), denn bei simpler Addition der Leitlinien für die einzelnen Erkrankungen ist die Zahl von fünf Wirkstoffen schnell überschritten.

Das Autorenteam der Leitlinie legt Wert darauf, dass es beim Deprescribing nicht darum geht, die Verordnungskosten zu senken, sondern das Behandlungsergebnis für die Patienten zu verbessern. Und: Trotz Multimedikation kann Unterversorgung bestehen, d.h. therapiebedürftige Erkrankungen oder Symp-tome werden nicht behandelt (z.B. kein Laxans trotz Dauermedikation mit stark wirksamen Opioiden).

Multimedikation ist daher per se nichts Negatives: Entscheidend ist nicht, wie viele Medikamente ein Patient erhält, sondern dass es die richtigen sind.

Die Leitlinie beschreibt das Verordnen und das Absetzen von Medikamenten als zyklischen Prozess, der wiederholt zu durchlaufen ist. Wichtige Schritte dabei sind:

  • Bestandaufnahme und Bewertung,
  • Abstimmung mit den Patienten (Shared Decision-Making),
  • Vorschlag für Verordnung/Absetzen und gute Kommunikation,
  • Monitoring/Follow-up.

Zielgruppe für Deprescribing

Zuerst müssen die Patienten erfasst werden, bei denen ein Medikationscheck (MC) als Vorbereitung eines möglichen Deprescribing dienen soll:

  • Bei Patienten mit Multimedikation sollte mindestens einmal jährlich eine Bestandsaufnahme und Bewertung der Medikation erfolgen.
  • Für einen allgemeinen MC können auch DMP-Termine oder der Gesundheits-Check-up genutzt werden.
  • Ein anlassbezogener MC sollte immer erfolgen, wenn Patienten über ein neues Symptom berichten (siehe Kasten “Unspezifische UAW-Symptome”) sowie allgemein bei jeder wesentlichen Medikationsänderung.
  • Bei einer neu hinzugekommenen Erkrankung ist zu prüfen, ob ein bisher verordnetes Medikament jetzt kontraindiziert ist oder ein wegen der neuen Erkrankung indizierter Wirkstoff aufgrund einer bisherigen Erkrankung nicht gegeben werden kann.
  • Nach jedem größeren Sturzereignis.
  • Nach einem Krankenhausaufenthalt (nach wie vor unbefriedigendes Entlassmanagement).
  • Beim Erstkontakt.

Bestandsaufnahme

Für den MC sollten Vorerkrankungen und aktuelle Beschwerden, klinischer Status und Laborwerte – insbesondere für die Nierenfunktion – bekannt sein. Wenn erforderlich, sollten Angehörige (mit Zustimmung der Patienten) einbezogen werden. Selbstverständlich sollte ein aktueller und vollständiger Medikationsplan vorliegen.

Zentraler Schritt der Bestandsaufnahme ist eine strukturierte Bewertung der Medikation. Die Leitlinie empfiehlt hierfür den “Medikationsangemessenheitsindex” (Medication Appropriateness Index, MAI, siehe Tab. 1).

Verordnungskaskaden aufspüren

Für jedes Medikament sollte geprüft werden, ob es gegen eine UAW eines anderen Wirkstoffs verordnet wurde. Solche Kaskaden können sich durchaus über mehrere Stufen erstrecken. Ein Beispiel:

Ein Patient erhält den Kalziumantagonisten Amlodipin, der bei ihm zu Knöchelödemen führt. Dagegen wird – erste Stufe der Kaskade – ein Diuretikum verordnet. Führt das Diuretikum zu Schwindel, wird dagegen vielleicht Betahistin eingesetzt – zweite Stufe – und es stellen sich danach Kopfschmerzen ein, die – dritte Stufe – mit Paracetamol bekämpft werden.

Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt

Immer geachtet werden sollte bei Multimedikation auf die anticholinerge Last von Wirkstoffen sowie das Potenzial zur Verlängerung der QTc-Zeit (siehe beide Kästen). Beide Effekte sind jeweils kumulativ: Während z.B. ein einzelner anticholinerger Wirkstoff gut vertragen wird, treten kognitive Störungen auf, sobald eine weitere anticholinerge Substanz hinzukommt.

Genauso können sich QTc-verlängernde Effekte mehrerer Wirkstoffe addieren und gefährliche Tachyarrhythmien auslösen.

Interaktionscheck: Auch OTC-Mittel erfassen

Von der Praxissoftware gemeldete Gegenanzeigen und Anwendungsbeschränkungen sollte man beachten, bei schwächeren Warnhinweisen kann man nach genauer Prüfung eventuell trotzdem verordnen. Ist ein interaktionskritisches Medikament nur kurzzeitig nötig, z.B. ein Makrolid, ist zu überlegen, ob man den anderen Wirkstoff pausieren kann, etwa ein ebenfalls QTc-verlängerndes Antidepressivum.

Immer zu denken ist auch an Interaktionen mit OTC-Mitteln, etwa Johanniskraut. Dessen Wechselwirkung mit Ciclosporin hat schon manches Transplantatorgan gekostet.

Gemeinsam entscheiden

Das Verordnen von Medikamenten erfordert ebenso wie das Absetzen eine gemeinsame Entscheidungsfindung. Dazu müssen die Patienten über die Therapieoptionen Bescheid wissen und nach ihren Präferenzen gefragt werden: Welche Bedeutung haben für sie etwa

  • das Aufrechterhalten der Aktivitäten des täglichen Lebens,
  • das Verringern/Ausschalten von Schmerzen,
  • das Lindern beeinträchtigender Symptome wie Schwindel und Atemnot,
  • die Verbesserung der Prognose (ggf. unter Inkaufnahme von Nebenwirkungen)?

Die aus ärztlicher Sicht plausiblen Prioritäten können sich von den Behandlungszielen der Patienten unterscheiden.

Kommunikation und Monitoring

Wichtig für den Erfolg ist das Verständnis der Patienten, wofür ein Medikament gegeben wird bzw. warum jetzt vorgeschlagen wird, es abzusetzen – insbesondere bei Medikamenten, die seit vielen Jahren verordnet werden.

Es erscheint plausibel, Medikamente immer nur einzeln abzusetzen bzw. in der Dosis zu reduzieren, weil nur so mögliche Absetzreaktionen eindeutig zugeordnet werden können. Manche Wirkstoffe können in einem einzigen Schritt abgesetzt werden, viele erfordern dagegen eine langsame Dosisreduktion (“Ausschleichen”).

Letzteres gilt vor allem für psychotrope Substanzen, Antihypertonika (speziell Betablocker), Kortikoide, Levodopa und Opioide, aber auch für Protonenpumpenhemmer nach längerer Einnahme.

Die Patienten sollen dazu motiviert werden, die Möglichkeiten zur Selbstkontrolle zu nutzen, z.B. durch regelmäßiges Wiegen bei Herzinsuffizienz oder Selbstmessung des Blutdrucks. Damit lässt sich eine mögliche Absetzreaktion schneller erkennen. Außerdem müssen die Patienten wissen, wie sie sich bei bestimmten Symptomen bzw. selbst gemessenen Werten verhalten sollen. Schließlich sollte man ihnen die Unterstützung durch das Praxisteam anbieten (z.B. die VERAH®).

Für jeden Patienten mit Multimedikation sollte ein Plan existieren, wann welche Laborparameter zu prüfen sind. Wurde eine Medikation geändert (an-/abgesetzt, Dosis verändert), ist es besonders wichtig, einen Termin für die Überprüfung des Behandlungsergebnisses zu vereinbaren.

Quelle: Hausärztliche Leitlinie Multimedikation.

Langfassung: https://hausarzt.link/RsoHE

Kurzfassung: https://hausarzt.link/XfUir

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