Hausarzt MedizinSchmerz: Frauen oder Männer – wer reagiert empfindlicher?

Frauen fällt es oft leichter, Schmerzen zu äußern. Männer dagegen verhalten sich manchmal nach dem Sprichwort „Der Indianer kennt keinen Schmerz“. Sind dies kulturelle Prägungen oder gar nur Vorurteile? Gibt es tatsächlich ein unterschiedlich aus­ geprägtes Schmerzempfinden bei Mann und Frau?

Die wissenschaftliche Forschung steht bezüglich der geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Schmerzen noch ganz am Anfang. In Untersuchungen zur Schmerzprävalenz findet man:

  • Schmerzzustände, die nur bei Frauen auftreten können, z. B. Menstruationsbeschwerden, Vulvodynie etc.
  • Chronische Schmerzsyndrome, die überwiegend bei Frauen auftreten, z. B. Fibromyalgie
  • Im Alltag häufige Schmerzsyndrome, die bei Frauen statistisch häufiger auftreten als bei Männern, z. B. Spannungskopfschmerz, Migräne, Rücken- bzw. Nackenschmerzen, Knieschmerzen etc.
  • Seltene Schmerzsyndrome, die nur bei Männern auftreten, z. B. Prostatitis, oder bei Männern häufiger auftreten, z. B. Cluster-Kopfschmerz, Gichtschmerz etc.

Aus diesen epidemiologischen Daten geht hervor, dass Frauen insgesamt häufiger von Schmerzproblemen betroffen sein dürften als Männer. Dies muss in der schmerztherapeutischen Versorgung adäquat Berücksichtigung finden. Eine Stigmatisierung von Frauen als das „wehleidigere“ Geschlecht ist nicht gerechtfertigt. Auch in der Schmerzforschung wurde diese Geschlechtsdifferenz bisher zu wenig berücksichtigt. So wurden beispielsweise in fast 80 Prozent der tierexperimentellen Studien nur männliche Tiere untersucht.

Ursachensuche

Fragt man nach den Ursachen für die Geschlechtsdifferenz, findet man viele widersprüchliche Forschungsergebnisse und letztlich keine einzelne schlüssige Erklärung für dieses Phänomen. Vage und eher spekulative Erklä rungsversuche, die in der Literatur gegeben werden, beziehen sich auf

  • die Möglichkeit, dass Frauen einfach offener über Schmerzen berichten und häufiger professionelle Hilfe bei Schmerzproblemen suchen, was sich dann als höhere Schmerzprävalenz in entsprechenden Studien zeigt,
  • die Möglichkeit, dass Frauen für bestimmte chronische Schmerzsyndrome empfänglicher sind als Männer,
  • die Möglichkeit dass Frauen vielleicht tatsächlich schmerzempfindlicher sein könnten bzw. eine geringere Schmerztoleranz haben könnten.

Für alle diese Hypothesen gibt es bislang keine wirklich schlüssigen Daten, die sie bestätigen. Auch Untersuchungen zu hormonellen Einflussfaktoren zeigten sehr divergente Ergebnisse. Allerdings zeigten Männer, die im Rahmen einer Geschlechtsumwandlung weibliche Sexualhormone bekamen, häufiger chronische Schmerzen. Vielleicht macht Testosteron unempfindlicher für Schmerzen?

In Übersichtsarbeiten werden mehrere Erklärungsebenen für die Geschlechtsunterschiede in der Schmerzprävalenz vorgeschlagen:

  • Bisherige Schmerzerfahrungen,
  • psychologische Faktoren,
  • genetische Differenzen,
  • neurochemische geschlechtsspezifische Unterschiede,
  • entwicklungsphysiologische Differenzen durch Einfluss der Geschlechtshormone,
  • Auswirkungen der Geschlechtshormone im Alltag,
  • soziokulturelle Faktoren.

Die Aufstellung zeigt, dass es nicht einen ursächlichen Faktor gibt, sondern allenfalls eine Kombination mehrerer Faktoren. Schmerzen lassen sich eben nicht objektiv messen, sondern sind eine höchst subjektive, individuelle Erfahrung, auch bei verschiedenen Geschlechtern. Dabei ist das Geschlecht nur einer von vielen Faktoren, die das Schmerzerleben so ungeheuer individuell machen. Falsch wäre es, alle Frauen und Männer über einen Kamm zu scheren.

Schmerzen individuell erfassen

Aus diesem Grund sollte der individuelle Schmerz jedes Betroffenen gezielt erfasst und behandelt werden. Patienten sind Experten für ihre Schmerzen, denn nur sie erleben das Gesamtphänomen mit allen psychosozialen und spirituellen Auswirkungen. Dieses individuelle Leiden lässt sich nicht von außen objektivieren. Auch das Ausmaß einer Tumorerkrankung korreliert nicht mit dem dabei empfundenen Schmerz.

Außenstehende können Schmerzen sehr viel schlechter einschätzen als der Patient selbst. Studien zeigen, dass Pflegende in fast der Hälfte der Fälle und Ärzte sogar in Dreiviertel der Fälle Schmerzen unterschätzen. Selbst Angehörige schätzen danach nur in etwa der Hälfte der Fälle Schmerzen richtig ein. Daher muss immer versucht werden, möglichst gute Angaben zu den Schmerzen vom Betroffenen selbst zu bekommen anstatt über seinen Schmerz zu urteilen.

Schmerzskalen

Schmerzerfassungsskalen helfen dabei, die Angaben der Betroffenen zu systematisieren. Dadurch wird allerdings auch ein multidimensionales Phänomen formalisiert und eingeengt. Sind sie der richtige Zugang für eine radikal am Patienten orientierte Haltung? Ein achtsamer Umgang mit Schmerzerfassungsskalen ist erforderlich. Sie müssen in gute Gespräche eingebunden werden.

Die Schmerzerfassung geht über das bloße Abfragen von Skalen im Sinn von Checklisten hinaus. Im patienten­ zentrierten, einfühlsamen Dialog wird versucht, die Multidimensionalität des Leidens zu erfassen. Hierzu ist ein auf den betroffenen, bedürftigen Menschen zentrierter Gesamtansatz nach Art einer „phänomenologischen“ Schmerzerfassung notwendig.

Kann eine Person ihre Schmerzen nicht gut mitteilen, muss die Art der Erfassung variiert werden, um dennoch Informationen vom Betroffenen zu bekommen. Dies ist vor allem bei verwirrten, dementen oder im Koma liegenden Menschen von Bedeutung. Neben den Betroffenen sollten dann ihr Umfeld, ihre Angehörigen, ihre professionellen Begleiter einbezogen werden.

Bei den gängigen Schmerzskalen handelt es sich um Likert-Skalen. Likert-Skalen messen persönliche Einstellungen. Die Items können positiv oder negativ formulierte Aussagen über einen Sachverhalt sein, zu dem die Befragten Zustimmung oder Ablehnung in mehreren, vorgegebenen Abstufungen äußern können. Die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten sind so konstruiert, dass der „Abstand“ zwischen den Antwortmöglichkeiten möglichst gleich ist. Für die Schmerzerfassung sind u. a. folgende Likert-Skalen gebräuchlich:

Verbale Ratingskala (VRS): Die von Schmerzen oder anderen Symptomen betroffene Person wird gebeten, die Stärke ihrer Beschwerden in Worten (verbal) anzugeben. Dafür werden verschiedene Antwortmöglichkeiten, z. B. „kein Schmerz“, „leichter Schmerz“, „mittelstarker Schmerz“, „starker Schmerz“, „sehr starker Schmerz“ und „maximal vorstellbarer Schmerz“ zur Auswahl angeboten (Abb. 1).

Numerische Ratingskala (NRS): Diese Skala ist sehr verbreitet, da sie ohne Hilfsmittel überall, selbst am Telefon, durchgeführt werden kann. Schmerzen werden mihilfe von Zahlenwerten zwischen 0 (kein Schmerz) und 10 (stärkster vorstellbarer Schmerz) von den Betroffenen in ihrer Stärke beschrieben. Durch die 10-fache Abstufung ist sie sehr viel differenzierter in der Aussagekraft als die VRS-Skala (Abb. 2).

Visuelle Analogskala (VAS): Bei dieser Schmerz-/Symptomerfassungsskala dient eine 10 cm lange Linie als Hilfsmittel, auf der der Betroffene zeigen soll, wo sein Schmerz-/Symptomwert liegt (Abb. 3). Mithilfe eines Lineals kann die Länge abgemessen werden. Hier entspricht der Abstand in Zentimetern der Schmerzstärke, er ist also analog zum Schmerz. Meistens finden in der Praxis Schmerzschieber Verwendung.

Abb. 1: Verbale Ratingskala (VRS)

  • Kein Schmerz
  • Leichter Schmerz
  • Mittelstarker Schmerz
  • Starker Schmerz
  • Sehr starker Schmerz
  • Maximal vorstellbarer Schmerz

Fazit

  • Frauen leiden statistisch gesehen häufiger an Schmerzproblemen.
  • Die Ursache für diese Geschlechtsdifferenz ist bislang unklar.
  • Es wird eher von einer Kombination verschiedener Einflussfaktoren als von einer einzigen Ursache für diesen Geschlechtsunterschied ausgegangen.
  • Schmerz ist eine höchst individuelle, subjektive Erfahrung, die von ent­ wicklungsgeschichtlichen, psychosozialen, biochemischen und vielen wei teren Faktoren, darunter auch dem Geschlecht abhängt.
  • Wichtig ist es daher, die Subjektivität und Individualität des jeweiligen Schmerzes zu erfassen und zu behandeln.

Literatur beim Verfasser

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