Hausarzt MedizinRat wider Willen

Manchmal liegen der Wille des Patienten und der Rat des Hausarztes über Kreuz. Wie kann der Arzt damit umgehen? Darüber haben sich Hausärzte im traditionellen Qualitätszirkel "Braun Gruppe"auf der practica ausgetauscht.

Hausärztinnen und Hausärzte bauen im Laufe ihrer Tätigkeit starke Beziehungen mit den sich ihnen anvertrauenden Patienten auf. So beschreibt ein Teilnehmer des Qualitätszirkels "Braun Gruppe" bei der practica Ende Oktober in Bad Orb ein mittlerweile fast freundschaftliches Verhältnis zu dem 92-jährigen Mann, den er seit 35 Jahren betreut.

Der erstaunlich fitte, geistig rege ehemalige Lehrer hatte schon Einiges durchgemacht. Seine erste und auch seine zweite Frau waren gestorben. Es besteht eine stabile KHK, eine Prostatahypertrophie und seit kurzem Vorhofflimmern. Trotz ausführlicher Gespräche kann er von der Notwendigkeit einer Blutverdünnung nicht überzeugt werden. Vorm Sterben habe er keine Angst, ja, er hätte sogar eine "letzte Reise" nach Holland angedacht.

Vor kurzem, an einem Donnerstag kommt er ausnahmsweise mit seiner Tochter in die Praxis. Sie ist besorgt, weil er ihr gegenüber Brustschmerzen erwähnte. Obgleich diese wieder abgeklungen waren, will sie Gewissheit, dass nichts Schlimmes dahinter steckt und sie sich keine Sorgen machen müsste; ist sie doch die einzige Bezugsperson, die in der Nähe lebt und nun werde sie aber bald für eine längere Zeit ins Ausland reisen.

Natürlich steht für den Hausarzt die Möglichkeit eines Akuten Koronarsyndroms im Raum. Er schreibt ein EKG, das aber wegen des bekannten Linksschenkelblockes bezüglich einer Ischämie nicht aussagekräftig ist, der Troponin-Schnelltest fällt allerdings positiv aus. Eine Klinikeinweisung erscheint unumgänglich, wird aber vom Patienten strikt abgelehnt. Die genaue Laboranalyse ist nicht vor dem Wochenende zu erwarten.

Längst ist die Praxis geschlossen, als das Labor dem Hausarzt am Freitag gegen 22 Uhr mitteilt, dass der Troponin-Test >1.000 wäre.

Mit den Fragen, die sich dem Kollegen nun aufdrängten, konfrontierte er die Teilnehmer in der Gruppe: Soll er den Patienten gleich kontaktieren? Die Telefonnummer hat er aber nicht bei sich. Soll er selbst hinfahren oder sofort den Rettungswagen schicken? Wieso hat er den Anruf überhaupt angenommen?

Ein Teilnehmer meint, es wäre ein Fehler gewesen, überhaupt Blut abzunehmen als weitere Diagnostik, wo es doch – dem Aufklärungsgespräch entnehmend – keine Konsequenzen gehabt hätte. Ein anderer hätte dem Patienten zumindest noch eine Einweisung vorbeigebracht. Diese hätte man bereits am Vortag aushändigen können – für den Notfall, wenn die Schmerzen unerträglich würden, oder falls es sich der Patient überlegt und doch dem Rat des Hausarztes folgt. "Lassen wir den Patienten ihren Willen!", plädierte ein weiterer Kollege.

Psychosomatisch ließe sich der Herzschmerz als Gefühlsausdruck für die Trennung von der Tochter interpretieren. Doch die somatische Klärung geht vor, wenn es um Leben und Tod geht. Im Sinne Balints kann man die angekratzte Autorität des Arztes mitfühlen, genauso wie die Angst vor dem drohenden und vielleicht noch mitverschuldeten Verlust eines liebgewordenen Patienten.

Der Kollege konnte den Patienten schließlich am Sonntag erreichen und ihm nochmals die Situation darlegen, ohne Konsequenz. Am Montag warf die Tochter ihm vor, dass er den Vater "nur" beunruhigt hätte. Glücklicherweise ist dem Patienten bis dato nichts Schlimmes passiert.

Ein ähnlich ungutes Gefühl beschreibt ein anderer Teilnehmer, der bei einer älteren Frau zwar ein EKG geschrieben, aber die Infarkt-typische ST-Hebung, wegen der Praxishektik, erst "registrierte", als die Patientin längst die Praxis verlassen hatte. Was sollte jetzt geschehen? Sie zurückholen und einweisen?

Wir Ärzte vergessen mitunter, dass die Arzt-Patienten-Beziehung nicht konkurrenzlos ist. Auch andere Nahestehende haben Einfluss auf die Kranken, das sollte man sich im Praxisalltag immer wieder in Erinnerung rufen.

Ein 60-jähriger Diabetiker ist seit zwei Jahren dialysepflichtig und hat dabei diverse Komplikationen erlebt. Weil die spezialisierten Einrichtungen ihn regelmäßig kontrollieren, sucht er nur noch selten seinen Hausarzt auf, der ihn seit gut 25 Jahren kennt.

Eines Tages bittet die Ehefrau des Patienten um einen Hausbesuch, weil ihr Mann nicht mehr zur Dialyse gebracht werden will. Sie hofft, dass der Hausarzt ihn umstimmen kann. Denn sie hatten früher bereits darüber gesprochen, wie belastend er seinen Zustand erlebt. Dabei hatte der Patient aber nie davon geredet, die Behandlung zu verweigern. Der Hausarzt respektiert schließlich die Entscheidung des Patienten und verspricht, ihn zu begleiten, wenngleich dem Hausarzt dabei nicht wohl ist. Er holt sich fachlichen Rat bei einem ihm bekannten Nephrologen, der ihn aber auch nicht beruhigt: Es sei "nicht schön" zuzusehen.

Während der vier bis fünf Besuche versucht der Hausarzt irgendwie lindernd einzugreifen.

Nach einer Woche kommt es überraschend zu einem "Familienrat". Der Schwager spricht ein Machtwort: "Das kannst Du nicht machen!" Der Patient fügt sich, wird in die Klinik eingewiesen, wo sein Zustand wegen einer Pneumonie vorübergehend kritisch wird. Danach lässt er die Dialyse wieder geduldig über sich ergehen.

Warum war es dem Kollegen nicht gelungen, ihn von der Behandlung zu überzeugen?

Die Teilnehmer der "Braun Gruppe" diskutieren, was vom Patientenwunsch wirklich zu halten ist. Wie ernst ist es dem Patienten, ist es "nur" ein Hilferuf? Oft gebe es in der Familie oder im Bekanntenkreis eine Person, die beim Betroffenen besonders Gehör findet, erzählt ein Kollege. In seiner Praxis sei dies einmal der Sohn einer Patientin gewesen: Er habe die 90-Jährige letztlich überzeugt, den rasch wachsenden, exulzerierenden Mamma-Tumor operieren zu lassen.

Es ist typisch für die Braun-Treffen, dass die Teilnehmer Fälle mit ähnlicher Problematik schildern.

Ein 60-jähriger Raucher ist durch die schwere COPD so beeinträchtigt, dass er nur sitzend in Kutscher-Stellung seine Luftnot ertragen kann. Der Hausarzt betreut ihn palliativ zuhause. Bei einem Hausbesuch äußert der Patient, dass er keine Lust mehr habe, so weiterzuleben. Seine ihn pflegende Ehefrau streichelt ihn beruhigend. "Ja, ich denke daran, Gift zu nehmen." Sie erschaudert.

Vermutlich animiert durch diese Szene, gibt der Hausarzt zu bedenken: "Das können Sie Ihrer Frau nicht antun. Was glauben Sie, welche Scherereien sie mit der Polizei hätte!" Vielleicht wegen des elenden Zustands des Patienten oder aus einer Eingebung, rät er dem Patienten, lieber nichts mehr zu essen und zu trinken. Jetzt bricht die Frau in Tränen aus.

Letztlich bewirkt dieses eskalierende Gespräch aber, dass der Patient von aktiver Sterbehilfe Abstand nimmt und nicht mehr davon spricht. Kurz darauf stirbt er infolge einer Phlegmone, die sich ausgehend von den Dekubitalulzera an seinen Unterarmen entwickelt hatte.

Die Teilnehmer diskutieren den Fall kontrovers: Einerseits sind sie erstaunt über den "unmöglichen" Vorschlag. Andere meinen, der Kollege habe "brilliant" reagiert, weil er damit den Lebenswillen noch einmal entfachen konnte.

Fazit

Die Betreuung alter und/oder schwerkranker Menschen verlangt von uns Ärzten, uns immer wieder neu einzufühlen und unser Handeln zu hinterfragen. Weder die Kenntnis des Patienten, noch eine palliativmedizinische Qualifikation garantieren, dass man in jeder Situation richtig vorgeht und optimal handelt. Von Vorteil ist Erfahrung. Diese teilen die Kollegen in der Braun Gruppe im Erfahrungsaustausch miteinander.

Die Braun Gruppe

Jedes Jahr tauschen sich auf der practica Allgemeinmediziner über ihre „Quäl“-Fälle aus. Zu Beginn moderierte Robert N. Braun, Hausarzt und Pionier der wissenschaftlichen Allgemeinmedizin, noch selbst diese „Mein Fall“ genannten Treffen. Zu seinen Ehren wurden sie als „Braun Gruppe“ etabliert.

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