Deutscher Schmerz- und PalliativtagCannabis – ein Fall für therapieresistente Beschwerden?

Cannabisarzneimittel werden bei chronischen Schmerzen aber auch bei therapieresistenten Beschwerden häufig als letzte Option eingesetzt – und bewirken selbst in der palliativen Situation teils erstaunliche Besserungen.

Cannabis-Wirkstoffe können therapieresistente Beschwerden in mehreren Bereichen lindern.

Als Haupt-Anwendungsgebiete für THC-haltige Cannabis-Wirkstoffe nannte Prof. Sven Gottschling Homburg/Saar chronische (neuropathische) Schmerzen sowie Spastiken und Spastizität unterschiedlicher Genese wie etwa Multiple Sklerose oder Querschnittslähmung.

Appetitmangel stellt eine weitere Indikation dar; dieser spielt in der Onkologie eine große Rolle, kommt aber auch bei seniler Kachexie, chronischer Lungenerkrankung (COPD) oder Zystischer Fibrose vor.

Polypharmazie vermeiden

Übelkeit und Erbrechen, komplexe palliative Situationen sowie eine therapierefraktäre Beschwerde-Kombination aus Schmerzen, Übelkeit, Appetitmangel, Angst und reaktiver Resignation/Depression sind ebenfalls mögliche Einsatzgebiete [1].

“Cannabis-Wirkstoffe können therapieresistente Beschwerden in mehreren Bereichen lindern”, resümierte Gottschling. Dazu komme gerade in der palliativen Situation der Aspekt, dass die Patienten aufgrund multipler Krankheiten zahlreiche Medikamente gleichzeitig einnehmen müssen.

Die Cannabis-Therapie biete hier die Chance, Polypharmazie zu vermeiden oder diese zumindest versuchsweise zu reduzieren. “Indem man ein Arzneimittel einsetzt, das verschiedene Zielsymptome günstig beeinflusst, lassen sich andere Medikamente oft reduzieren und so die Lebensqualität des Patienten verbessern”, erklärte der Pädiater.

Cannabisbegleiterhebung zeigt Therapieerfolge

Insgesamt ist die Datenlage noch nicht sehr umfassend, allerdings liegen mittlerweile die Zwischenergebnisse der aktuellen Cannabisbegleiterhebung vor [2]. Dafür wurden zum Stichtag am 11.05.2020 über 10.000 vollständige Datensätze ausgewertet.

In 65 Prozent der Fälle wurde Dronabinol, in 18 Prozent Cannabisblüten, in 13 Prozent Sativex®, in 0,3 Prozent Nabilon und in 4 Prozent Cannabisextrakt verordnet.

Der größte Anteil an Verordnungen erfolgte in den Fachbereichen Anästhesiologie und Allgemeinmedizin mit 49 Prozent bzw. 17 Prozent. Internisten trugen zu 10 Prozent bei, Neurologen zu 12 Prozent. Allgemeinmediziner verordneten am häufigsten Cannabisblüten (32,9 Prozent), gefolgt von Sativex (13,9 Prozent) und Dronabinol (13,5 Prozent).

Vor allem bei Schmerzen verordnet

Die Mehrheit aller Verordnungen von Cannabisarzneimitteln diente der Behandlung von Schmerzen (73 Prozent). Hier wurde der Therapieerfolg bei 34 Prozent der Patienten als ‚deutlich verbessert‘ eingestuft, bei 36 Prozent als ‚moderat verbessert‘ und bei 28 Prozent als ‚unverändert‘.

Noch etwas besser war der Therapieerfolg (von Dronabinol) bei Patienten mit multipler Sklerose als Hauptdiagnose und zusätzlich therapierter Spastik: Hier wurde der Zustand bei 41 Prozent als ‚deutlich verbessert‘ beurteilt, bei 43 Prozent als ‚moderat verbessert‘ und bei 15 Prozent als ‚unverändert‘.

Eine nicht ausreichende Wirkung lag bei 14 Prozent aller Anwender vor, 8,75 Prozent brachen die Behandlung aufgrund von Nebenwirkungen ab. Bei der Einordnung dieser Ergebnisse gab Gottschling zu bedenken, dass Cannabisarzneimittel in der Regel erst angewandt werden, wenn andere Medikamente nicht mehr wirken, oder aus anderen Gründen nicht mehr eingesetzt werden können. Entsprechend positiv seien diese Ansprechraten zu beurteilen.

Kontraindikationen

Cannabinoid-basierte Arzneimittel sollten nicht angewandt werden, sofern eine Überempfindlichkeit oder Allergie gegen den Wirkstoff oder herstellungsbedingte Begleitstoffe vorliegen [3]. Auch während der Schwangerschaft und Stillzeit sind diese Arzneimittel tabu, da Dronabinol plazentagängig ist und sich in der Muttermilch anreichert. Eine Schädigung des Fötus beziehungsweise des Säuglings lässt sich nicht ausschließen.

Bei manifesten Psychosen oder gravierenden psychischen Erkrankungen, insbesondere (bei Anzeichen) einer Schizophrenie, sollte man laut Gottschling den Einsatz sehr genau abwägen.

Panikattacken, endogene Depression oder bipolare Störungen können sich unter Cannabinoid-basierten Arzneimitteln verstärken.

Krampfanfälle und Epilepsie stellen dagegen eine relative Kontraindikation dar, denn bei der oralen Anwendung niedrig dosierter THC (Tetrahydrocannabinol)-Präparate kann sich die Häufigkeit an Krampfanfällen sogar verringern.

Start low, go slow, stay low

Eine besonders sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung und ein behutsames Auftitrieren sowie engmaschiges Monitoring empfiehlt Gottschling bei Patienten mit (schwerer) Herz-Kreislauf-Erkrankung, insbesondere bei ischämischer Herzerkrankung, Tachykardie und Bluthochdruck.

Gleiches gilt für Patienten mit beeinträchtigter Leber- oder Nierenfunktion und sowohl bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen (bis zum 25. Lebensjahr), als auch bei Hochbetagten. Bei Letzteren aufgrund einer generellen Suszeptibilität für Nebenwirkungen, häufiger Multimedikation und/oder verminderter Metabolisierung bzw. Ausscheidung.

“Wir scheuen uns aber nicht, Cannabinoide auch bei älteren, multimorbiden Patienten mit Polymedikation breit einzusetzen, da sie gut verträglich sind und effektiv wirken”, erklärte Gottschling. Der Pädiater betonte zudem, dass er viele Kinder in der palliativen Situation damit behandle – immer unter Einhaltung der wichtigen Regel: start low, go slow, stay low [4].

Cannabinoid-Verordnung: Tipps zur Vorgehensweise

Vor einer Verordnung sind drei Punkte zu berücksichtigen:

  1. Die Krankheit muss schwerwiegend sein.
  2. Es darf keine zumutbare Behandlungsalternative vorhanden sein.
  3. Es muss eine begründete Aussicht auf Behandlungserfolg bestehen.

Bei Punkt drei hilft laut Gottschling ein Blick in die PraxisLeitlinie Schmerzmedizin “Cannabis in der Schmerzmedizin” der DGS (Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin). “Darin finden sich genügend Argumente, um eine Cannabinoid-Verordnung hinreichend zu begründen”, erklärte der Pädiater.

Seiner Erfahrung nach lehnen die Krankenkassen die Anträge häufig mit der Begründung ab, dass noch zumutbare Behandlungsoptionen zur Verfügung stünden.

Anhand eines Patientenbeispiels erläuterte Gottschling seine Argumentationsweise: Der Patient litt unter opioidrefraktären Schmerzen, Inappetenz, Depressivität und Schlafstörungen. “Aufgrund multipler Vorerkrankungen (u.a. höhergradige Herzrhythmusstörungen, starker Schwindel) ist der Einsatz von Antineuropathika aus den Gruppen der Antidepressiva und Antiepileptika fachlich nicht zu verantworten.”

Zudem verwies Gottschling in diesem Fall auf eine hochpalliative Gesamtsituation, die “den Versuch einer zeitgleichen Einstellung auf multiple Medikamente gegen die zuvor genannten Symptome bei zu erwartenden erheblichen Nebenwirkungen verbiete”.

Da nur Dronabinol die genannten Symptome als Monotherapeutikum adressiere, sei es alternativlos. Um die Dringlichkeit zu unterstreichen, verwies Gottschling im Antrag darauf, dass mit der Einstellung bereits begonnen wurde und die Therapie vom zugeschalteten spezialisierten ambulanten Palliativversorgungs (SAPV)-Team fortgeführt werde.

Quelle: Deutscher Schmerz- und Palliativtag, 22. bis 26. März 2022

Literatur

  1. Roychoudhury P et al. BMJ Support Palliat Care 2021; 11(3): 299-302
  2. Schmidt-Wolf G, Cremer-Schaeffer P. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2021; 64(3): 368-377
  3. Gottschling S et al. Int J Gen Med 2020; 13: 1317-1333
  4. Gottschling S. Pädiatrie 2021; 33(1): 22-29
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