EvidenzCannabis in der Neurologie – eine kritische Betrachtung

Die Nachfrage nach Cannabis als Medizin steigt, die Verordnungen ebenfalls. Die Evidenz für den Einsatz der Cannabisprodukte bei neurologischen Krankheiten ist allerdings nach wie vor sehr dürftig.

Am 10. März 2017 ist das Gesetz “Cannabis als Medizin” in Kraft getreten [1]. Dieses “Cannabisgesetz” berechtigt Ärzte, cannabishaltige Arzneimittel für “Patienten mit einer schwerwiegenden Erkrankung” zu verordnen. Welche Erkrankungen damit genau gemeint sind, wurde nicht näher definiert. “Es sind nicht nur die Lebenszeitbegrenzenden Erkrankungen gemeint, sondern auch solche, die aufgrund ihres chronischen Verlaufs die Lebensqualität der Patienten nachhaltig beeinträchtigen”, erklärte Priv.-Doz. Dr. Michael Überall, Nürnberg.

Die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme seitens der gesetzlichen Krankenversicherungen sind ebenfalls weit gefasst (Sozialgesetzbuch SGB V § 31 Abs.6): Demnach sollte eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung

  • nicht zur Verfügung stehen, nicht wirken oder aufgrund der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen können.
  • Zudem muss eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome bestehen.

Verschreibungsfähige Cannabis-Substanzen

Es dürfen sowohl getrocknete Blüten als auch Cannabisextrakte in standardisierter Qualität sowie Rezepturarzneimittel mit den Wirkstoffen Dronabinol, THC (Tetrahydrocannabinol), Nabilon und Nabiximol verordnet werden. Darüber hinaus sind für bestimmte Indikationen zwei Fertigarzneimittel zugelassen:

  • THC/CBD(Cannabidiol)-Oromukosalspray zur Behandlung der Spastik bei Multipler Sklerose
  • Nabilon bei Chemotherapie-bedingter Übelkeit und Erbrechen

Beide Arzneimittel lassen sich jedoch auch jenseits der genannten Indikationen off-label verordnen. Alle anderen Formen von Cannabis als Medizin werden no-label verschrieben. “Das bedeutet, es gibt keine Daten und keine Dosisfindungs-Evaluation sondern lediglich Individualtherapie”, erklärte Überall.

Sehr beliebt scheint die Verordnung von Cannabisblüten, die sich derzeit allerdings nur aus dem Ausland beziehen lassen. Abgesehen von den teilweise sehr hohen Kosten für Cannabisblüten ist zu bedenken, dass ihr THC-Gehalt mit über 20 Prozent heute oft deutlich höher ist als früher.

Die Inhalation kann innerhalb kürzester Zeit zu hohen THC-Plasmakonzentrationen führen. “Da das Risiko für Nebenwirkungen bei hohen THC-Werten ansteigt, sollten wir Blütentypen mit niedrigerem THC-Gehalt bevorzugen”, empfahl Überall. Hohe THC-Spitzenkonzentrationen und eine zu schnelle Freisetzung sind durch orale Formulierungen vermeidbar.

Hauptindikation: neuropathischer Schmerz

Cannabis wird insbesondere für die Indikation Schmerz verordnet (69 Prozent), erst mit weitem Abstand folgen Spastik (11 Prozent), Anorexie (8 Prozent), Übelkeit/Erbrechen (4 Prozent), Depression (3 Prozent), ADHS (2 Prozent) und Appetitstörungen (1 Prozent). Etwa zwei Drittel der Verordnungen entfallen auf neuropathische Schmerzen (69,7 Prozent), rund ein Drittel auf nozizeptive Schmerzen (30,4 Prozent) [2].

“Überraschend ist, dass noch nicht einmal ein Sechstel der gesamten Verordnungen im Palliativbereich erfolgen – stattdessen liegt die Hauptverordnung bei chronischem, nicht-tumorbedingtem Schmerz”, konstatierte Überall. Zu denken gibt Überall zufolge auch die Tatsache, dass nicht etwa Anästhesisten und Schmerztherapeuten (die am Gesetzgebungsverfahren beteiligt waren) die häufigsten Verordner sind, sondern die Gruppe der Allgemeinmediziner und der hausärztlichen inneren Medizin.

Kaum Evidenz vorhanden

Bei der Frage nach der Evidenz der Cannabisverordnungen lohnt sich ein genauerer Blick auf die Veröffentlichungen. So ergibt eine PubMed-Recherche zum Stichwort ‚Cannabinoid‘ laut Überall insgesamt 26.571 Treffer. Ergänzt man nacheinander die Schlagworte Schmerz, Neuropathie, Mensch und randomisierte kontrollierte Studie (RCT) bleiben ganze fünf Treffer übrig.

“Das zeigt das Dilemma vor dem wir stehen: Wir haben die Möglichkeit, mit diesen Wirkstoffen alles zu tun, haben aber keine Ahnung, was sie in der Anwendung beim Menschen wirklich können”, erklärte Überall.

Eine systematische Übersichtsarbeit kommt zu folgenden Schlüsse [3]: Es besteht eine eingeschränkte Evidenz für den Einsatz von THC/CBD-Spray bei neuropathischen Schmerzen. Es besteht keine ausreichende Evidenz für Cannabinoide (Dronabinol, Nabilon, Medizinalhanf, THC/CBD-Spray) bei Tumorschmerzen, rheumatischen und gastrointestinalen Schmerzen oder bei Appetitlosigkeit bei Krebs und AIDS.

Nabiximol scheint das am besten untersuchte Cannabinoid bei chronischen Schmerzen, mit einer nachgewiesenen Evidenz für eine leichte Schmerzreduktion verglichen mit Placebo [4].

Wie die Analyse anonymisierter Real-World-Daten zeigte, profitierten zwei von drei Patienten mit schweren chronischen Schmerzen von einem THC:CBD-haltigen Oromukosalspray [5]. Insbesondere Patienten mit neuropathischen Schmerzen sprachen an und konnten aufgrund der Anwendung andere Schmerzmedikamente reduzieren.

Die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie rät, die Anwendung von Cannabinoiden bei neuropathischen Schmerzen zu erwägen, wenn andere Schmerztherapien im Rahmen eines multimodalen Schmerztherapiekonzepts versagt haben [6].

Mögliche Vorgehensweise

Nach Möglichkeit sind Kombinationspräparate aus THC plus CBD zu verwenden, da CBD möglichen Nebenwirkungen des THCs (z. B. Psychoaktivierung oder Gedächtnisstörungen) entgegenwirkt. Überall empfiehlt, bei Cannabis-naiven Patienten mit einer abendlichen Dosis von jeweils etwa 2 mg THC und CBD zu beginnen (1:1 Fertigarzneimittel oder Vollextrakt) [7].

Nach ein bis drei Tagen erfolgt eine Dosisanpassung mit einer Erhöhung um etwa 2 mg THC/CBD und ggf. einer Erweiterung der Einnahme auf morgens und abends. Die Zieldosis liegt bei 15 bis 25 mg THC/CBD täglich. “Nur sehr wenige Patienten benötigen eine höhere Dosis”, berichtete Überall.

Literatur

  1. Bundesanzeiger: Bundesgesetzblatt 2017; 1: 403-406
  2. Cremer-Schaeffer P et al. Der Schmerz 2019; 33: 415-423
  3. Häuser W et al. Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 627-634
  4. Hoch E et al. Springer Verlag 2018; ISBN 978-3-662-57291-7
  5. Überall MA et al. Journal of Pain Research 2019; 12: 1-2
  6. Schlereth T et al. S2k-Leitlinie, 2019, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (aufgerufen am 25.03.2020)
  7. Überall MA. Zeitschrift Schmerzliga 2018; 3: 6-8

Quelle: Hausarzt-Tag 2020, Vortrag PD Dr. Michael Überall: “Cannabis in der Therapie neurologischer Erkrankungen”, München

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