Hausarzt MedizinMüdigkeit: Schrotschuss-Diagnostik vermeiden

Schildert ein Patient Müdigkeit, atmen wir erst einmal tief durch – viele verschiedene Ursachen können dahinterstecken. Wie vermeiden wir hier Über- und Unterdiagnostik? Eine systematische Übersicht und die DEGAM-Leitlinie Müdigkeit geben Hilfestellungen [1, 2].

Kasuistik

Herr S., 62 Jahre alt, ist vor einigen Monaten in unser Dorf gezogen. Er kommt heute erstmals in unsere Hausarztpraxis. In den letzten Jahren sei er nicht ernstlich krank gewesen und nehme keine Medikamente. Er wolle sich hier vorstellen, außerdem sei er besorgt, weil er sich seit Monaten müde und schlapp fühle, auch nachdem der Umzug und das Drumherum erledigt sind. Er könne sich die Müdigkeit nicht erklären und befürchte, dass eine Erkrankung dahinter stehen könnte.

Prävalenz

International wird das Symptom Müdigkeit von Menschen in Hausarztpraxen bei 1 bis 10 Prozent aller Konsultationen als Hauptberatungsanlass angegeben. Zählt man auch Müdigkeit als Nebenbeschwerde hinzu, erreicht man eine Häufigkeit von 20 bis 30 Prozent. Gehäuft klagen Frauen, Personen im mittleren Alter, Alleinlebende und solche aus unteren sozialen Schichten über Müdigkeit.

Ätiologie

Bei systematischer Aufarbeitung liegen diesem Symptom folgende vorher nicht diagnostizierte Ursachen zugrunde: Depression (ca. 20 Prozent), Anämie (1 bis 5 Prozent), Malignom (0,3 bis 0,7 Prozent), gravierende organische Ursachen wie Diabetes und COPD (3 bis 6 Prozent). In den übrigen Fällen blieb die Ursache unklar oder war bereits als Vorerkrankung bekannt. Weitererelevante Ursachen wie Angststörungen, Medikamentennebenwirkungen, Sucht oder Schlafstörungen wurden in den Studien nicht systematisch erfasst.

Vielfach beeinflussen sich die Ätiologien wechselseitig oder sind gleichzeitig vorhanden. So kommt es zu einem Teufelskreis der Dekonditionierung (Abb. 1): Eine neu aufgetretene Erkrankung oder Befindensstörung führt dazu, dass die körperliche Aktivitätreduziert wird. Hieraus entsteht leicht ein Zyklus des zunehmenden Konditionsabbaus und psychischer Beeinträchtigung.

Diagnostische Strategien

Eine ausführliche bio-psycho-soziale Anamnese ist bei diesem vieldeutigen Symptom ausgesprochen wichtig. Sie kann durch einen speziellen Anamnesebogen ergänzt werden [3]. Besonders zu achten ist neben der geschilderten Symptomatik mit Zeitverlauf und Kontext auf das subjektive Erleben und Vorstellungen zur Ätiologie und Behandlung, funktionelle Beeinträchtigungen und Begleitbeschwerden, die soziale, familiäre und berufliche Situation sowie Lebensführung, Medikamenten- und Substanzgebrauch, Fragen nach bisher nicht bekannten chronischen Erkrankungen, vorausgegangenen Infekten, Schlafstörung oder Schnarchen, imperative Einschlafneigung tags (Hinweis auf Schlafapnoe-Syndrom) sowie Depression und Angst (Tab. 1).

Ein Somatisierungsverdacht ergibt sich bei einer hohen Zahl vorausgegangener Arztkontakte oder bereits früher geäußerten variablen Beschwerden mit weitgehend unergiebiger Diagnostik. Zusätzlich sollte ein orientierender körperlicher Status erhoben werden mit dem Schwerpunkt auf Haut und Schleimhäute, Herz (cave Blutdruck als vermeintliche Ursache) und Atemwege, Abdomen, Muskeltrophik, -kraft, -tonus, Eigenreflexe.

Bei weiterhin ungeklärter Ursache wird folgendes Labor-Basisprogramm empfohlen: BSG/CRP, Blutzucker, kleines Blutbild, TSH, Leberwert (GGT oder GPT).

Bei auffälligen Begleitsymptomen/Befunden sollten diese durch die weitere Diagnostik abgeklärt werden (siehe Langfassung der DEGAM-Leitlinie). Bei einer Grunderkrankung, die Müdigkeit hervorrufen oder verstärken kann, sollte deren Therapie überdacht werden. Vorschnelle Etikettierungen sollten ebenso vermieden werden wie eine überzogene Diagnostik, um Fehlleitungen der Patienten zu vermeiden.

Weitere Betreuung

Das weitere Vorgehen richtet sich nach dem Ergebnis dieser Diagnostik. Häufig sind mehrere Ursachen zu berücksichtigen. Hilfreich sind neben der gezielten Behandlung zugrundeliegender Erkrankungen folgende Strategien:

Aufklärende Beratung, Ernstnehmen der Patientenvorstellungen, Symptomtagebuch, Vermeidung von Über-/Unterforderung durch Entspannungstechniken oder vorsichtiger körperlicher Aktivierung, Schlafhygiene, strukturierte Terminvergabe, ggf. Verhaltenstherapie. Abbildung 2 gibt einen Überblick über die empfohlene Vorgehensweise und die zeitlichen Abläufe.

Prognose

75 Prozent der Patienten brauchen nur einen Arztkontakt. Dennoch sind nach sechs Monaten noch 60 Prozent der Patienten symptomatisch. In Behandlung befinden sich dann aber nur noch vier Prozent. Ohne signifikante psychische oder physische Komorbidität ist Müdigkeit meist kurzdauernd. Prognostisch ungünstig sind ein höheres Alter, psychische oder chronische somatische Erkrankungen sowie die Fixierung auf eine somatische Störung.

Kasuistik – Fortsetzung

Wie war das weitere Vorgehen bei dem eingangs geschilderten Patienten? Im Erstgespräch äußerte er noch den Verdacht, dass bei ihm eine beginnende Demenz vorliege. Er fühlte sich in seiner jetzigen beruflichen Situation überfordert. In der Kindheit hatte er ein schweres Thoraxtrauma und wurde auch einige Zeit mit Asthmasprays behandelt, was aber seine seither bestehende Belastungsdyspnoe nicht besserte.

Wir vereinbarten einen Checkup-Terminund ergänzten die dabei erhobenenBlutwerte durch die oben genannten. Außerdem sollte er den ausgefüllten Anamnesebogen mitbringen. Eine Lungenfunktionsuntersuchung sowie ein Demenztest sollten durchgeführt werden.

Daraus ergaben sich ein unauffälliger körperlicher und Laborbefund bis auf eine leichte restriktive Ventilationsstörung. Allerdings gab es deutliche Hinweise auf eine mittelgradige Depression sowie eine leichte kognitive Beeinträchtigung.

Herr S. entschloss sich, vorzeitig in Rente zu gehen und seine Frau bei ihrer Tätigkeit als Tagesmutter zu unterstützen. Sein psychisches Befinden hat sich seither deutlich gebessert, die Kognition und körperliche Belastbarkeit blieben in den folgenden zwei Jahren stabil. Er ist zufrieden, nimmt keinerlei Medikamente ein und kommt im Alltag gut zurecht.

Weitere Informationen

Fazit

  • Von Anfang an für ein breites Spektrum von Ursachen des Symptoms offen bleiben.

  • Schrotschussdiagnostik vermeiden und am empfohlenen Basisprogramm orientieren.

  • Den Patienten empathisch begleiten mit festen Folgeterminen, falls keine rasche Besserung eintritt.

Mögliche Interessenkonflikte: Die Autorin ist Hausärztin mit Budgetverantwortung und Mitautorin der entsprechenden Leitlinie, die offen zugänglich ist.

Literatur

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