Berlin. Auch wenn derzeit zur besten Sendezeit in der ARD für ein Medikament gegen Reizdarm geworben wird, ist das Thema für viele Patienten immer noch ein Tabu, das sie bei ihrem Hausarzt nur ungerne ansprechen. Doch die Scham ist unberechtigt: Das Reizdarmsyndrom (RDS) scheint eine wahre Volkskrankheit geworden zu sein, geht man nach den Zahlen, die die Barmer in ihrem am Donnerstag (1. März) veröffentlichten Arztreport nennt. Demnach gibt es stetig mehr Patienten mit RDS-Diagnosen, und zwar besonders in der jüngeren Altersgruppe.
Wurde 2005 noch bei einem Prozent der Bundesbürger RDS diagnostiziert, war es 2017 ein Drittel mehr. Im gleichen Zeitraum stieg die Quote bei den 23- bis 27-Jährigen von 0,8 auf 1,35 Prozent, also um fast drei Viertel. Insgesamt habe es 2017 etwa eine Million RDS-Diagnosen gegeben. Diese scheinen allerdings nur einen Teilausschnitt abzubilden, wie der Barmer-Vorstandsvorsitzende Prof. Christoph Straub vermutete: Bei den meisten Patienten würde RDS nämlich gar nicht diagnostiziert. Das läge einerseits am Tabu, das viele von einer Arztkonsultation abhalte. Und andererseits daran, dass viele Hausärzte RDS nicht erkannten oder falsch behandelten.
Kritik: Fokus liegt zu stark auf Bekämpfung der Symptomatik
Von bis zu 16 Millionen RDS-Betroffenen geht die Barmer aus. Hausärzte würden bei Patienten mit RDS oft Untersuchungen vornehmen, die zwar viel Geld kosteten, aber nichts nützten, so Straub. Und: „Es gibt eine übermäßige technische Diagnostik.“ So seien 2017 bei 130.000 Patienten CTs durchgeführt worden, „die aufgrund der Strahlenbelastung nur zurückhaltend eingesetzt werden sollten“. Und die 200.000 MRTs des gleichen Jahres seien bei Reizdarm zwar nicht schädlich, aber eben keine geeignete Diagnostik und unnötig teuer.
Es werde sich bei RDS zu sehr auf die Bekämpfung der Symptomatik konzentriert, daraus folge oft eine Medikamentisierung, sagte Prof. Joachim Szecsenyi, Studienleiter und Geschäftsführer des aQua-Instituts. Fast 40 Prozent der Patienten hätten 2017 Protonenpumpenhemmer eingenommen, deren Nutzen bei RDS umstritten sei und die nur bei einer eindeutigen Indikation verordnet werden sollten. Aber auch opioidhaltige Arzneimittel würden zu häufig verschrieben – 2017 etwa an 100.000 RDS-Patienten, sie lagen damit 40 Prozent über dem Schnitt aller Barmer-Versicherten. Bei Antidepressiva lag die Differenz bei zwölf Prozent.
Zeit für gute Diagnosestellung muss vergütet werden
Szecsenyi empfahl Ärzten, bei Patienten mit Darmbeschwerden zunächst eine Medikamentenanamnese durchzuführen. So könnte beispielsweise eine gehäufte Antibiotika-Einnahme im vorangegangenen halben Jahr eine Ursache sein. Im nächsten Schritt müsse man eine akute Gefährdung ausschließen, die unter anderem vorliege, wenn Blut im Stuhl festgestellt werde. Ergäbe sich dabei kein sofortiger Handlungsbedarf, sollten sich Hausärzte Zeit lassen, um sich zusammen mit den Patienten „therapeutisch stufenweise heranzutasten“. Man müsse etwa psychosomatische Ursachen abklären, und ebenso mit Ernährungsexperten zusammenarbeiten.
„Es braucht einen multidisziplinären Ansatz“, sagte Barmer-Chef Straub. Er wisse aber auch, „dass dafür häufig die Zeit nicht da ist oder solche Leistungen nicht vergütet werden. Das ist eine Folge der Organisation unseres Gesundheitswesens.“ Er sei aber zuversichtlich, dass man auf einem „guten Weg sei, eine breite hausärztliche Versorgungsbasis“ aufzubauen, in der es Hausärzten dann möglich sei, RDS-Patienten besser durchs Gesundheitssystem zu lotsen.