Berlin. Sollten Mediziner in der Corona-Krise über Leben und Tod entscheiden müssen, dürfen nach dem Willen von Ärztefunktionären und Deutschem Ethikrat nur medizinische Kriterien zählen.
Empfehlungen der Fachgesellschaften maßgeblich
So müsse etwa sichergestellt werden, dass Entscheidungen unabhängig von sozialem Status, Herkunft, Alter oder Behinderung getroffen werden, hieß es in einer Mitteilung des Deutschen Ethikrates am Freitag (27.03.).
Auch hierzulande sei eine Situation möglich, “in der nicht mehr ausreichend intensivmedizinische Ressourcen für alle Patienten zur Verfügung stehen”, teilte der Ethikrat mit. Mit seiner Ad-hoc-Empfehlung “Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise” will er ethische Orientierungshilfe leisten.
Der Staat dürfe menschliches Leben nicht bewerten und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation vorrangig zu retten sei. Die Empfehlungen der Fachgesellschaften seien maßgeblich. Sie könnten “inhaltlich über das hinausgehen, was staatlicherseits zulässig wäre”.
“Es muss gerecht zugehen”
Sieben medizinische Fachgesellschaften hatten am Donnerstag gemeinsame Empfehlungen vorgelegt. Im Falle einer Knappheit in der aktuellen Corona-Pandemie sollten in Krankenhäusern Intensivbetten nach Erfolgsaussicht der Behandlung verteilt werden. “Es muss gerecht zugehen” hieß es.
“Wir haben uns ganz klar gegen das Kriterium “Alter” entschieden und wollen sehr viel differenzierter vorgehen”, sagte Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).
In einem Team aus drei Experten mit unterschiedlichen Blickwinkeln solle entschieden werden. Den Empfehlungen zufolge spielen dabei der Schweregrad der aktuellen Erkrankung sowie relevante Begleiterkrankungen eine wesentliche Rolle.
Auch der Patientenwille – aktuell oder per Verfügung – sei fester Bestandteil bei allen Entscheidungen. Kein Unterschied soll zwischen Covid-19-Patienten und anderweitig Erkrankten, die eine Intensivbehandlung benötigten, gemacht werden.
“Die Kollegen in Italien und Spanien sind jetzt schon schwer traumatisiert. Das geht an niemandem spurlos vorbei. Daher kann ein solcher Kriterienkatalog auf jeden Fall eine Stütze sein”, sagte Janssens.
Behandlung beenden, um einen anderen zu retten?
Problematisch seien besonders Situationen, in denen die Versorgung eines Patienten abgebrochen werde, um einen anderen Patienten mit höheren Überlebenschancen zu retten, teilte der Ethikrat mit.
“Objektiv rechtens ist das aktive Beenden einer laufenden, weiterhin indizierten Behandlung zum Zweck der Rettung eines Dritten nicht”, hieß es. Wenn ein Arzt aber in einer solchen Notsituation nach von Fachgesellschaften aufgestellten Kriterien entscheide, müsse er aber vermutlich nicht mit einer strafrechtlichen Verfolgung rechnen.
Ständige Prüfung der Maßnahmen
Mit Blick auf die Einschränkungen hieß es, der ethische Konflikt bestehe darin, ein funktionierendes Gesundheitssystem zu sichern und gleichzeitig die negativen Folgen für die Gesellschaft möglichst gering zu halten.
Die Experten forderten darum eine ständige Prüfung der Maßnahmen. Dem Schutz menschlichen Lebens dürften nicht “alle anderen Freiheits- und Partizipationsrechte sowie Wirtschafts-, Sozial- und Kulturrechte bedingungslos untergeordnet werden”.
Nun müssten Pläne für eine schrittweise Rücknahme der Maßnahmen entworfen werden – “auch um die negativen ökonomischen Folgen und sozialpsychologischen Konsequenzen für andere vulnerable Gruppen gering zu halten”, sagte der Vorsitzende Peter Dabrock. Zu diesen vulnerablen Gruppen zählen etwa Patienten, deren medizinische Behandlung als derzeit nicht zwingend notwendig ausgesetzt wird.
Konkret empfohlene Einzelmaßnahmen
Konkret empfiehlt der Ethikrat für die nächste Zeit unter anderem folgende Einzelmaßnahmen:
- weiteres Aufstocken und Stabilisieren der Kapazitäten des Gesundheitssystems
- Einführung eines flächendeckenden Systems zur Erfassung und optimierten Nutzung von Intensivkapazitäten
- Abbau bürokratischer Hürden und bessere Vernetzung im Gesundheitssystem und mit anderen relevanten Gesellschaftsbereichen
- weiterer Ausbau von Testkapazitäten
- weitere kontinuierliche Datensammlung zu individueller und Gruppenimmunität und zu Verläufen von Covid-19
- breite Förderung/Unterstützung von Forschung an Impfstoffen und Therapeutika sowie Vorbereitung von Förderstrukturen für deren massenhafte Produktion und Einführung
- Unterstützung von interdisziplinärer Forschung zu sozialen, psychologischen und anderen Effekten der Maßnahmen im Rahmen der Covid-19-Pandemie
- Entwicklung von effektiven und erträglichen Schutz- und Isolationsstrategien für Risikogruppen
- eine fundierte Strategie für die transparente und regelmäßige Kommunikation zu ergriffenen Maßnahmen und zur politischen Entscheidungsfindung im Zusammenhang mit Covid-19
- konkrete Berechnungen der zu erwartenden Kosten durch ergriffene Maßnahmen und Alternativszenarien
Quelle: dpa