Hausarzt MedizinEinnässen beginnt im Kopf

Psychosomatisch bedingte Inkontinenzformen wie das nächtliche Einnässen sind schwierig zu behandeln. Bewährt hat sich ein auf Harntrakt und Psyche ausgerichteter multimodaler Therapieansatz.

Das nächtliche Einnässen bzw. die Enuresis bezeichnet eine psychosomatisch bedingte Harninkontinenz ab dem 5. Lebensjahr. Sie tritt sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen auf und ist Ausdruck einer dysfunk­tio­nalen Stressbewältigung bei psychosozialer Belastung mit fortgesetzt erhöhter innerer Anspannung. Es besteht also keine neurogene oder somatisch durch Beckenbodeninsuffizienz bedingte Inkontinenz. Auch liegt hier keine funktionell obstruktive Miktionsstörung zugrunde, wodurch die Enuresis ebenfalls klar von der somatoformen überaktiven Blase des Kindes und des Erwachsenen zu trennen ist.

Primäre und sekundäre Enuresis

Von primärer Enuresis spricht man, wenn das Kind oder der Erwachsene noch nie längere zwischenzeitliche Kontinenzphasen als 6 Monate hatte. Als sekundäre Enuresis­ bezeichnet man das Wiederauftreten des Einnässens bei Kindern oder Erwachsenen, nachdem bereits Kontinenz bestand.

Der Harnabgang tritt initial nur während des Nacht- oder ggf. auch während des Mittagsschlafs auf. D.h. bei der primären Form ist im Kleinkindalter ganz regulär die Kontinenz im Wachzustand erreicht worden, bei der Manifestation der sekundären Form bleibt die Kontinenz im Wachzustand in der Regel auch vorerst unverändert bestehen.

Typischerweise ist deshalb bei beiden Formen erst das Hinzukommen von Inkontinenzepisoden auch im Wachzustand der Auslöser, dass betroffene Kinder oder Erwachsene in der urologischen Praxis vorstellig werden. Offensichtlich ist erst dann der Leidensdruck so groß, dass die Scham überwunden werden kann und der Arztbesuch möglich wird. Kinder mit allein nächtlicher Symptomatik werden in der Regel erst dann von ihren Eltern gebracht, wenn Klassenfahrten und Übernachtungen bei Freunden anstehen, oder sie stellen sich selbst nach der Pubertät vor, wenn sie sexuelle Intimität und gemeinsames Übernachten mit dem Beziehungspartner beginnen wollen.

Psychosomatische ­Miktionsstörung

Während den anderen Erkrankungen mit psychosomatischen Miktionsstörungen wie der überaktiven Blase, den rezidivierenden Harnwegsinfekten und dem chronischen Beckenschmerzsyndrom eine situativ bedingte oder permanente Hyperaktivität des externen urethralen Sphinkters zugrunde liegt, findet sich bei der Enuresis ein normaler Sphinktertonus mit nur gelegentlicher kurzzeitiger Hypoaktivität. D.h. es kommt situationsbedingt zu einer Relaxation des Sphinkters mit Einleitung einer physiologischen Miktion.

Entsprechend ist das nächtliche Einnässen typischerweise durch komplettes Auslaufen der Blase gekennzeichnet, während bei der somatoformen überaktiven Blase des Kindes und des Erwachsenen nur kleinere Mengen verloren werden.

Kommt es bei älter werdenden Kindern oder Erwachsenen zum zusätzlichen Auftreten von Inkontinenzepisoden während des Tages, dann kann die Symptomatik variieren. Möglich sind sowohl das komplette Auslaufen der Blase als auch der Verlust nur geringer Harnmengen. Dieses ist zum ­einen davon abhängig, ob dem Patienten das willkürliche Ansteuern und aktive Anspannen des Sphinkters möglich ist. Zum anderen ist bedeutsam, wie gut und wie schnell sich der Pa­tient wieder psychisch stabilisieren und physisch kontrollieren kann, nachdem in einer emotionsbesetzten Situation eine partielle Spannungsreduktion im Sinne einer Art Überlaufinkontinenz erfolgt ist.

Urologische Funktionsdiagnostik

Bei Kindern findet sich eine komplett unauffällige Basisdiagnostik, d.h. Urinsediment, körperliche Untersuchung inklusive Inspektion der Lumbosakralregion, orientierender neurologischer Status, Sonographie der Harnorgane und Uroflowmetrie sind in der Norm. Analog der somatoformen überaktiven Blase des Kindes finden sich häufig Hinweise auf das Vorliegen einer psychosomatischen Erkrankung anhand der ­biographischen Anamnese, anhand des Verhaltens des Kindes und durch Beobachtung der ­familiären Interaktion in der Praxis.

Bei Erwachsenen findet sich ebenfalls eine unauffällige Basisdiagnostik. Die bei Frauen zum Ausschluss einer Belastungsharninkontinenz erfolgende­ Urethrozystoskopie sollte unbedingt empathisch und mit atraumatischer Endoskopietechnik erfolgen, damit nicht ein situationsbedingtes Kontrahieren des Sphinkters fälschlicherweise an eine­ ursächliche habituelle Hyperaktivität mit Miktionsaufschub denken lässt. Sind diese Untersuchungsbedingungen gegeben, ist ein glattes Eingehen in die Blase mit problemloser Passage auch der proximalen Urethra möglich. Intravesikal imponiert ein physiologischer Befund, insbesondere finden sich im Gegensatz zur Sphinkter-Hyperaktivität keine Trabekulierung und eine normale Kapazität.

Die digitale Beckenbodenevaluation lässt einen normalen Muskeltonus registrieren, ebenso besteht eine normale Mobilität der Urethra, durch Hustenprovokation ist weder im Liegen noch im Stehen ein Harnabgang provozierbar. Entsprechend findet sich hier keine muskuläre Insuffizienz des Sphinkters, wie sie für die Belastungsharninkontinenz ursächlich ist. Typischerweise besteht aber eine eingeschränkte­ willkürliche Ansprechbarkeit des Sphinkters auch unter digitaler Anleitung, d.h. die willentlich angestrebte Kontraktion des Sphinkters ist der Pa­tientin nicht gut möglich, es handelt sich also um eine eingeschränkte Wahrnehmung und Ansteuerung des Beckenbodens. Ebenso zeigt die Urodynamik eine physiologische Messung der Blasen- und Sphinkterdrucke, insbesondere eine suffiziente Drucktransmission im Urethradruckprofil in Ruhe und unter Hustenprovokation.

Dysfunktionale Stress­bewältigung

Der Enuresis werden ebenso wie den übrigen somatoformen Miktionsstörungen unterschiedliche Funktionen zur Reduktion psychosozialer Belastung zugeschrieben. Typischerweise ereignen sich die Inkontinenzepisoden während des Schlafs, der nicht durch Ausschaltung des Gehirns, sondern im Gegenteil durch Phasen erhöhter Aktivität bestimmter Zentren gekennzeichnet ist. Während die hemmende bzw. kontrollierende linke Gehirnhälfte ruht und somit funktionell wegfällt, ist die rechte Hälfte nun in ihrer Beschäftigung mit Erlebtem und der Verarbeitung von Emotionen in Form von Träumen sehr aktiv.

Analog manifestiert sich die ggf. im Verlauf hinzukommende Tagessymptomatik dann auch in mit negativen Emotionen besetzten Momenten, d.h. in Situationen, die mit Angst, Unsicherheit, Resignation und Trennungsängsten einhergehen. Werden z.B. Hilflosigkeit und Ohnmacht empfunden, weil die adäquate Reaktion des Widerstands von den Eltern nicht erlaubt ist, können die daraus folgende Wut und Aggression ihren Ausdruck im Einleiten der Miktion finden. Hat ein Kind gelernt, dass in Kränkungssituationen der Versuch von Selbstbehauptung mit Bestrafung oder Liebesentzug beantwortet wird, macht es als Folge sozialer Konditionierung zukünftig in die Hose, um dadurch kurzfristig seine Grundbedürfnisse nach Auto­no­mie und Selbstwerterhöhung erfüllt zu bekommen.

Reifungsstörung, negatives ­Selbstbild und Missbrauch

Bei Kindern liegen der Enuresis analog zur somatoformen überaktiven Blase des Kindes eine Reifungs- und Selbstwertregulationsstörung zugrunde, bei beiden Erkrankungen sind meist soziale Unsicherheit, Ängste und ein negatives Selbstbild wahrnehmbar. Bei Jugendlichen und Erwachsenen findet sich die Enuresis häufig bei Vernachlässigung und Deprivation, emotionaler Ausbeutung und sexuellem Missbrauch. Die kommunikative bzw. interaktionelle Funktionalität der Symptomatik gewährt Schutz und die Wiederherstellung von Grenzen. Die unausgesprochene Bestrafung durch Auslösung eines schlechten Gewissens lässt die Beziehungen kontrollieren. So verliert jemand, der einnässt und eine Windel trägt, seine Attraktivität als Sexualpartner oder wird zumindest in Ruhe gelassen.

Die familiäre Häufung ist lerntheoretisch bedingt als Ausdruck generationsübergreifender Tradition. D.h. Eltern, die selbst Enuretiker waren, geben oftmals unreflektiert die Eltern-Kind-Interaktion weiter, die sie selbst als Kind erlebt haben und die auch bei ihnen zum Einnässen geführt hat. Darüber ­hinaus ist von epigenetischer Modulation in der Schwangerschaft und frühen Kindheit auszugehen, so dass sich bei Kindern psychosozial belasteter und selbstunsicherer Mütter eine Disposi­tion zur Enuresis im Sinne einer Stressdiathese entwickelt. Genetische Veränderungen wurden wissenschaftlich ausgeschlossen.

Fazit

Erfolg durch multimodale Therapie Wie sämtliche psychosomatische Miktionsstörungen bedarf auch die Behandlung der Enuresis eines kombinierten Vorgehens aus multimodaler Beckenboden-Edukation zur Verbesserung der körpereigenen bzw. Selbstwahrnehmung und aus der Beseitigung der psychosozialen Belastung und Selbstwertproblematik. Grundstein ist die Schaffung ­einer für die Behandlung motivierenden und Entspannung zulassenden Arzt-Patienten-Beziehung, die die Grundbedürfnisse erfüllt, positive zwischenmenschliche Erfahrungen machen lässt und so ein Selbstwert- und soziales Kompetenztraining zur Selbstbehauptung erlaubt.

Literatur bei der Verfasserin

Mögliche Interessenkonflikte: Die Autorin hat keine deklariert.

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