TSH-Wert“Wir machen Leute krank, die nicht krank sind”

Viele Menschen nehmen Levothyroxin ein, obwohl sie es nicht bräuchten. Prof. Martin Fassnacht erklärt, wie Hausärzte gegensteuern können.

Wie hoch ist in Deutschland der Anteil der Patienten, die unnötigerweise Levothyroxin einnehmen?

Prof. Martin Fassnacht: Dazu gibt es keine guten Daten. Aber ich schätze, es sind mindestens 50 Prozent.

Das ist viel. Welcher Schaden kann dadurch entstehen?

Zum einen ist es gar nicht so einfach, die Patienten dauerhaft im Zielbereich zu halten. Auch wenn sie immer die gleiche Dosis einnehmen, kann es durch äußere Faktoren zu einer Unter- oder Überversorgung kommen.

Dann entsteht potenziell ein gesundheitlicher Schaden. Zweitens kommt es zu einem ökonomischen Schaden durch unnötige Medikamente und Laborkontrollen. Und der aus meiner Sicht entscheidendste Faktor: Wenn man jeden Tag eine Tablette nehmen muss, fühlen sich viele Menschen bewusst oder unbewusst langfristig kränker. Wir machen damit Leute krank, die nicht krank sind, und das ist aus meiner Sicht das relevanteste dieser drei Probleme.

Um unnötige Verordnungen von vornherein zu vermeiden: Wie sollten Ärzte bei einer subklinischen Hypothyreose verfahren? Ab welchem TSH-Wert ist Levothyroxin induziert?

Ich selbst habe mich bis vor kurzem immer an den Cut-off-Wert von 10 mU/l gehalten. 2019 ist dann eine Praxis-Leitlinie im BMJ erschienen [1], die den Cut-off auf 20 gesetzt hat. Diese Empfehlung ist umstritten, weil ihr nur eine geringe Datenbasis zugrunde liegt.

Ich denke, dass jemand, der einen Wert von 15 hat, zumindest am Anfang eine strengere Kontrolle braucht, ob nicht aus 15 doch irgendwann 25 werden und er Symptome bekommt. Bei Vorträgen propagiere ich als Grenzwert dennoch gern die 20, weil ich hoffe, dass sich die Ärzte dann zumindest an die 10 halten.

Bei welchen Patienten sollten Hausärzte versuchen, Levothyroxin abzusetzen?

Wenn die Patienten bereits Levothyroxin einnehmen, gilt es zu klären, warum und unter welchen Bedingungen ihnen das Medikament ursprünglich verordnet wurde. Wenn der Patient thyreoidektomiert wurde, ist es klar, dass er Schilddrüsenhormone nehmen muss.

Das gleiche gilt für eine ausgeprägte Hypothyreose bei Hashimoto-Thyreoiditis. Aber in den wenigsten Fällen ist es so. Viele Menschen hatten am Anfang mal ein leicht erhöhtes TSH, einmalig gemessen, manche sogar nur mit einem zwischenzeitlich in Deutschland nicht unüblichen Grenzwert von 2,5 mU/l.

Alle, die einen maximalen TSH-Wert von unter 10 hatten, sind meiner Meinung nach Kandidaten fürs Absetzen – beziehungsweise Kandidatinnen, meist sind ja Frauen betroffen. Dasselbe gilt für diejenigen, bei denen sich nicht rekonstruieren lässt, warum die Therapie jemals begonnen wurde.

Eine wichtige Frage ist zudem, ob die Betroffenen damals Symptome hatten: Wenn sie starke hypothyreose-typische Beschwerden hatten, würde ich das Levothyroxin nicht absetzen. Eine Rolle spielt auch die Dosis: Nimmt eine Patientin 200 Mikrogramm ein und hat darunter ein TSH von 2,5, dann spricht vieles dafür, dass sie es wirklich braucht.

Und letztendlich ist auch das Alter noch ein relevanter Faktor, da man inzwischen gut weiß, dass das TSH physiologisch im Alter etwas ansteigt. Das heißt, dass ein TSH von 8 mU/l bei einem Menschen mit 20 Jahren deutlich auffälliger ist, während es bei einem 80-Jährigen als normal gewertet werden sollte.

In einer Studie [2] hat das Absetzen auch bei etwa 12 Prozent der Patienten mit initial manifester Hypothyreose funktioniert.

Wenn die Patienten eindeutig eine manifeste Hypothyreose hatten, würde ich keinen Absetzversuch machen. Es sei denn, er oder sie kommt aktiv auf mich zu und will es versuchen. Aber oft sind die Patienten zunächst besorgt, wenn man sie damit konfrontiert, ihr Levothyroxin absetzen zu wollen.

Jemandem, der schon eine manifeste Hypothyreose gehabt hat, der gegebenenfalls deutlich an Gewicht zugenommen hat, dem würde ich das auch kein zweites Mal zumuten wollen. Mir geht es um die vielen Patienten, die noch nie wirklich schilddrüsenkrank waren.

Ist es Ihrer Erfahrung nach also schwierig, Patienten vom Absetzen zu überzeugen?

Das ist sehr unterschiedlich. Manche sind heilfroh und machen sofort mit. Andere sorgen sich: “Man hat mir jetzt doch zehn Jahre oder noch länger eingetrichtert, wie wichtig es ist, dass ich morgens meinen ganzen Rhythmus danach stelle..”.

Die Leute nehmen ja, wenn sie es ordentlich machen, 30 Minuten vor dem Essen die Tablette ein, müssen ihr Frühstück danach richten, ihren Tagesablauf darauf einstellen. Dann finden sie es schon merkwürdig, wenn jemand kommt und es absetzen will.

Das muss man ihnen deswegen gut erklären, sie ernst nehmen und dazu bereit sein, es jederzeit wieder rückgängig zu machen. Sicher könnten ein paar Patienten denken: “Der will ja nur Geld sparen”, aber das ist bei Schilddrüsenhormonen wirklich irrelevant.

Das muss man den Menschen begreiflich machen. Und bei den meisten wird der Absetzversuch gelingen und die Patientinnen sind langfristig froh, weil sie sich morgens den ganzen “Zinnober” sparen und sich gesünder fühlen.

Apropos morgendlicher Zinnober: Wenn ein Patient Levothyroxin einnehmen muss, ist die spätabendliche Gabe dann eine Alternative?

Das ist eine sehr gute Alternative für diejenigen, die sich morgens schwertun, die Tabletteneinnahme in ihren Tagesablauf zu integrieren. Allerdings sollten abends zwischen dem letzten Essen und dem Schlafengehen mindestens drei Stunden liegen. Wer also abends um zehn nochmals was isst und dann um halb elf ins Bett geht, der ist kein guter Kandidat.

Wie sollten Ärzte beim Absetzen vorgehen?

Ich empfehle, ein Ausgangs-TSH zu bestimmen und es vier bis acht Wochen später zu kontrollieren. Den genauen Zeitpunkt der Kontrolle mache ich davon abhängig, wie ängstlich die Patienten sind und wie viel sie wiegen – das Körpergewicht ist ja oft eine ihrer Hauptsorgen.

Wichtig: Wenn der TSH-Wert dann leicht erhöht ist, zum Beispiel 5 oder 6 mU/l, bedeutet das nicht automatisch, dass man das Levothyroxin wieder ansetzen muss. Ich würde nach weiteren acht Wochen erneut kontrollieren – möglicherweise hat sich das TSH dann eingependelt und liegt zum Beispiel bei 4,5. Dann kann man es dabei belassen, wenn es dem Patienten nicht schlechter geht. Nur bei einem TSH über 10 würde ich behandeln.

Wie viele Patienten haben nach dem Absetzen Ihrer Erfahrung nach normale Werte?

Weit über 75 Prozent. Es gibt natürlich auch Patienten, bei denen ich dann feststelle, dass sie doch dauerhaft Levothyroxin benötigen.

Im Rahmen einer Studie [3] haben zwei Labore, die unterschiedliche Assays zur Bestimmung der Schilddrüsenhormone nutzen, dieselben Proben untersucht – bei unter 50 Prozent war das Ergebnis konkordant. Was bedeutet das für die Praxis?

Das bestätigt nur noch einmal mehr, dass man basierend auf einem Einzelwert im “Graubereich” keine Dauertherapie einleiten sollte. Man sollte sich immer wieder bewusst machen, dass ein einzeln gemessener Laborwert auch falsch sein kann, und sich zumindest über eine zweite Probe absichern.

Wobei die meisten Fehler in der Studie ohnehin in dem TSH-Bereich zwischen 4 und 10 mU/l passierten. Wenn man da sowieso nicht behandelt, ist es auch nicht ganz so entscheidend, wie hoch der Wert genau ist.

Kritisch wird es, wenn man daraus eine Behandlungsindikation ableitet. Deswegen gilt aus meiner Sicht: Wenn der TSH-Wert zwischen 4 und 15 oder auch 20 liegt, sollte man ihn zunächst nach acht Wochen kontrollieren.

Es gab vor circa 15 Jahren eine beeindruckende Studie [4]: Bei über 300.000 Patienten wurden in einem Abstand von mindestens vier Wochen zweimal Schilddrüsenwerte gemessen. Von denjenigen, deren TSH zunächst leicht erhöht oder erniedrigt war, hatten mehr als die Hälfte bei der zweiten Probe ohne Therapie ein völlig normales TSH.

Viele Leute nehmen Levohyroxin ein, weil es keine zweite Kontrolle gab. Und das ist am unnötigsten: Wenn Menschen, die nie schilddrüsenkrank waren, aufgrund eines einzelnen TSH-Werts lebenslang behandelt werden.

Literatur

  1. Bekkering GE et al. Thyroid hormones treatment for subclinical hypothyroidism: a clinical practice guideline. BMJ 2019 May 14;365:l2006. doi: 10.1136/bmj.l2006
  2. Burgos N et al. Clinical Outcomes After Discontinuation of Thyroid Hormone Replacement: A Systematic Review and Meta-Analysis. Thyroid 2021 May;31(5):740-751. doi: 10.1089/thy.2020.0679
  3. Kalaria T, Sanders A, Fenn J, Ashby HL, Mohammed P, Buch HN, et al. The diagnosis and management of subclinical hypothyroidism is assay-dependent- Implications for clinical practice. Clinical endocrinology. 2021. Epub 2021/01/22. doi: 10.1111/cen.14423
  4. Meyerovitch J et al. Serum thyrotropin measurements in the community: five-year follow-up in a large network of primary care physicians. Arch Intern Med. 2007 Jul 23;167(14):1533-8. doi: 10.1001/archinte.167.14.1533.
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