Hausarzt MedizinAbhängigkeit erkennen

Viele Suchtkranke suchen den Hausarzt wegen somatischen oder psychischen Beschwerden auf. Daher hat er oftmals als erster die Chance, eine Suchterkrankung zu erkennen.

In Deutschland liegt bei 10,4 Millionen Menschen ein riskanter Konsum von Alkohol vor, bei 1,7 Millionen Menschen ist die Diagnose eines Schädlichen Gebrauchs (ICD10 F10.1) und bei 1,7 Millionen die einer Abhängigkeitserkrankung von Alkohol (ICD10 F10.2) gestellt worden.

Mindestens die Diagnosen "Schädlicher Gebrauch" und "Abhängigkeit" sind behandlungsbedürftige Diagnosen. In Deutschland sind nach Zahlen des Instituts für Therapieforschung (IFT) München aber nur zirka 9 bis 10 Prozent der an Alkohol- oder Cannabiskonsum Erkrankten in Behandlung, d. h. etwa 90 Prozent erhalten keine Behandlung. Bei Medikamentenabhängigen (ca. zwei Millionen; besonders Benzodiazepine, Opioide) scheint die Versorgungslücke noch größer zu sein. Weltweit beträgt die Versorgungslücke von Suchtkranken ungefähr 80 Prozent [5]. Die Ursachen hierfür sind sicherlich vielfältig.

Folgeschäden

Suchtkranke Menschen haben ein hohes Ausmaß an vielfältigen somatischen und psychischen Folgeerkrankungen sowie häufig eine pathologische Stressverarbeitung, die das klinische Bild bestimmen und gerade bei den früheren Formen einer Suchtentwicklung diese überdecken. Hinzu kommt das hohe Vermeidungsverhalten von Suchtkranken, die eine Diagnostik und entsprechende Therapie erschweren.

Alkohol verursacht direkt mehr als 30 Krank-heiten und trägt indirekt zur Entstehung von mehr als 60 Erkrankungen bei, wie beispielsweise (in absteigender Reihenfolge) gastroenterologischen, mentalen und neurologischen Störungen, Verletzungen, kardiovaskulären und onkologischen Erkrankungen [7, 9, 12].

Die Mortalität ist unbehandelt hoch [10].

Auch der Konsum von Cannabis kann diverse somatische (z. B. chronische Bronchitis, Lungenkarzinom, Hyperemesis, Verkehrsunfälle) und psychische Folge- schäden (z. B. Panikstörung, Schizophrenie) erzeugen [3, 4].

Diagnose

Gerade für die Frühdiagnostik von Suchterkrankungen bzw. einer Suchtentwicklung kommt den Haus- und Allgemeinärzten eine besondere Bedeutung zu, denn vielfach suchen diese Patienten einen Arzt nur wegen (durch Suchtsubstanzen erzeugte) somatischen oder psychischen Störungen auf.

Wichtig für die Früherkennung/Diagnostik sind zum einen indirekte Parameter wie Veränderungen an Haut und Schleimhäuten, kardiovaskuläre Messparameter, Entzugssyndrom, Laborindikatoren für Alkoholkonsum (Tab. 1) und ein Screening mit immunologischen Schnelltests auf Drogen wie Cannabis, Psychostimulanzien, Benzodiazepine, Opiate sowie ggf. mit GC/MS-Analytik für die neuen synthetischen amphetaminartigen oder cannabinoidergen Drogen und Medikamente.

Klinische Auffälligkeiten und Laborparameter können nur Hinweise auf eine Suchterkrankung geben. Die Diagnosestellung kann nur über ein Gespräch erfolgen, möglichst unterstützt durch direkte Instrumente wie strukturierte Fragebögen (z. B. AUDIT/AUDIT-C, CAGE Screening-Test). Die Diagnose ist nach den ICD10 F1-Kriterien zu stellen (Tab. 2).

Therapieziele

Im Anschluss an die Diagnose sollten die individuellen Therapieziele besprochen werden, z. B. (in absteigender Reihenfolge):

  • Abstinenz,

  • Verlängerung von suchtmittelfreien Perioden,

  • Reduzierung von Einnahmehäufigkeit und -menge, Erlernen alternativer Verhaltensweisen,

  • Sicherung des möglichst gesunden Überlebens,

  • Sicherung des Überlebens.

Das übergeordnete langfristige Ziel in der Behandlung von Abhängigkeit sollte die Abstinenz sein.

Therapie

Bei der erstmaligen Diagnose einer Abhängigkeit steht eine stationäre qualifizierte Entzugsbehandlung in einer psychiatrischen Klinik in der Regel im Vordergrund. Diese umfasst eine Entzugsbehandlung, die differenzierte Diagnostik und Behandlung der Suchterkrankung und der psychiatrischen und somatischen Erkrankungen, der psychosozialen Probleme, Motivationsarbeit, Indikationsstellung und Vermittlung in Folgetherapien [1]. Aus psychiatrischer Sicht sind besonders auch die Diagnostik und Therapie der häufigen Angst- und depressiven Störungen zu beachten sowie die der psychischen Traumafolgestörungen wie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) [2, 12].

Die Folgetherapien sollten daher in der Regel aufgrund der Komplexität der Suchterkrankungen mit ihren diversen komorbiden Störungen multimodal/multidisziplinär sein, d. h. eine Kombination von medikamentöser, psychiatrischer und psychosozialer Therapie mit (Verhaltens-)Psychotherapie, Soziotherapie und Selbsthilfegruppen. Die Durchführung sollte den individuellen Bedürfnissen angepasst erfolgen, d. h. je nach Behandlungsphase unterschiedlich multimodal sein.

Die Therapie kann entweder ambulant (z. B. in einer Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA Sucht) und/ oder Reha-Einrichtung sowie beim Hausarzt und in einer Selbsthilfegruppe) oder (teil-)stationär in einer Fachklinik oder als rehabilitative Entwöhnungstherapie (Reha-Maßnahme) und dann nachfolgend im ambulanten Setting (s. o.) durchgeführt werden.

Eine möglichst lebenslange Begleitung der immer wieder rückfallgefährdeten Suchtpatienten durch den Hausarzt ist während der gesamten verschiedenen Behandlungsphasen außerordentlich wichtig.

Opiatabhängige Patienten

Eine besondere Gruppe sind opiatabhängige Patienten, die primär heroinabhängig sind und zu 60 bis 80 Prozent zusätzlich neben zahlreichen somatischen und psychischen Erkrankungen auch an einer chronischen Hepatitis C erkrankt sind [8]. Sie können mit einer Opioidsubstitutionstherapie behandelt werden, die in Deutschland trotz des hohen Anteils von psychischen Störungen im Wesentlichen ambulant von Hausärzten mit der Zusatzbezeichnung "Suchtmedizinische Grundversorgung" durchgeführt wird.

Hinsichtlich der Hepatitis-C-Behandlung hat es in den letzten Jahren enorme Fortschritte gegeben. Heute können fast alle Patienten zu 100 Prozent geheilt werden und es könnte zu einer Eradikation der Hepatitis C kommen, wenn Diagnose und Therapie flächendeckend durchgeführt würden [13]. Die Therapiedauer beträgt in der Regel nur noch 12 Wochen, bei günstigen Ausgangsbedingungen ist die Heilung auch schon nach acht Wochen möglich, siehe Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) und gemeinsame Empfehlungen der DGVS und des Berufsverbands Niedergelassener Gastroenterologen Deutschlands e. V. (bng) [6]. Damit ist eine der wichtigsten somatischen Begleiterkrankungen der i. v.- Drogenabhängigkeit heilbar geworden.

Mögliche Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert.

Literatur

  • 1 Batra A, Müller CA, Mann K, Heinz A (2016). Abhängigkeit und Schädlicher Gebrauch von Alkohol – Diagnostik und Behandlungsoptionen. Dtsch Ärztbl Int 2016;113:301-10.

  • 2 Driessen M, Schulte S, Luedecke C, Schaefer I, Sutmann F, Ohlmeier M, Kemper U, Koesters G, Chodzinski C, Schneider U, Broese, T, Dette C, Havemann-Reinecke U. Trauma and PTSD in Patients with Alcohol, Drug or Dual Dependence: A Multi-Center Study, Alcohol Clin Exp Res 2008, Vol 32, No 3, 2008: pp 1-8

  • 3 Hoch E, Bonnet U, Thomasius R, Ganzer F, Havemann- Reinecke U, Preuss UW. Risiken bei nicht medizinischem Gebrauch von Cannabis. Dtsch Ärztebl Int. 2015 Apr 17;112(16):271-8

  • 4 Imtiaz S, Shield KD, Roerecke M, Cheng J, Popova S, Kurdyak P, Fischer B, Rehm J. The burden of disease attributable to cannabis use in Canada in 2012. Addiction. 2015 Nov 24. doi: 10.1111/add.13237. [Epub ahead of print]

  • 5 Kohn R1, Saxena S, Levav I, Saraceno B. The treatment gap in mental health care. Bull World Health Organ. 2004 Nov;82(11):858-66. Epub 2004 Dec 14.

  • 6 Leitlinien zur Behandlung der Hepatitis C der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten DGVS www.dgvs.de und gemeinsame Empfehlungen des Berufsverbandes Niedergelassener Gastroenterologen Deutschlands e.V. (bng, www.bng-gastro.de ), Februar 2015

  • 7 Preuss UW, Gouzoulis-Mayfrank E, Havemann-Reinecke U, Schäfer I, Beutel M, Mann KF, Hoch E. Mental comorbidities of alcohol-related disorders. Nervenarzt. 2015 Oct 24.

  • 8 Nelson PK, Mathern BM, Cowie B et al. Global epidemiology of hepatitis B and hepatitis C in people who inject drugs: results of systematic reviews. Lancet 2011; 378(9791): 571-583.

  • 9 Rehm J et al. Alcohol Comparator Report – Alcohol consumption, alcohol dependence, and attributable burden of disease in Europe: potential gains from effective interventions for alcohol dependence 2012

  • 10 Roerecke M1, Rehm J. Alcohol use disorders and mortality: a systematic review and meta-analysis. Addiction 2013 Sep;108(9):1562-78.

  • 11 Schäfer I, Langeland W, Hissbach J, Luedecke C, Ohlmeier MD, Chodzinski C, Kemper U, Keiper P, Wedekind D, Havemann-Reinecke U, Teunissen S, Weirich S, Driessen M; the TRAUMAB-Study group. Childhood trauma and dissociation in patients with alcohol dependence, drug dependence, or both-A multi-center study. Drug Alcohol Depend. 2010; 109: 84–89

  • 12 Schneider U, Altmann A, Baumann M, Bernzen J, Bertz B, Bimber U, Broese T, Broocks A, Burtscheidt W, Cimander KF, Degkwitz P, Driessen M, Ehrenreich H, Fischbach E, Folkerts H, Frank H, Gurth D, Havemann- Reinecke U et al. Comorbid anxiety and affective disorder in alcohol-dependent patients seeking treatment: the first multicentre study in Germany. Alcohol and Alcoholism (2001) 36:219–233

  • 13 Wedemeyer H et al. Strategies to manage hepatitis C virus (HCV) disease burden. J Viral Hepat 2014, 21(Suppl 1:) 60-89

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