Zu guter LetztMit der “Rolle vorwärts” in den Sarg?

Die Geschichte einer Krankheit ist nicht deckungsgleich mit der Geschichte des erkrankten Menschen. In der Therapie, der Begleitung des Patienten gilt es beide Geschichten zusammenzuführen und zu eruieren: Was will ich als erkrankter Mensch? Was kann ich? Sollte ich? Muss ich? Und was darf ich?

Als fünf Kategorien der Heilung bezeichnet Prof. Annelie Keil diese Fragen bei der Ringvorlesung "Was hilft heilen?" an der Frankfurter Goethe-Universität – und als Grundlage für die Kommunikation mit dem Patienten, sei sie verbaler oder nonverbaler Natur. Die Professorin für Soziologie und Gesundheitswissenschaften hat über ihr wichtigstes Forschungsgebiet referiert, ein Lebensthema, das in Folge mehrerer schwerer Erkrankungen – Herzinfarkt, Krebs – persönlich gefärbt ist: Was ist Gesundheit? Was macht gesund? Und welchen Einfluss hat die Psychosomatik auf Gesundheit, Krankheit und Gesundungsprozesse?

Heilung sei das Ziel medizinischer Intervention und bewege sich doch im Spannungsverhältnis zwischen Bedarf und Bedürfnis, sagt Keil, die bis 2004 als Professorin an der von ihr mitgegründeten Universität Bremen lehrte und viele Jahre Dekanin des Fachbereichs Human- und Gesundheitswissenschaften war; 1992 erhielt sie den Berninghausen Preis für ausgezeichnete Lehre und 2004 das Bundesverdienstkreuz.

Der Bedarf berührt demnach gesamtgesellschaftliche Fragen: Ist die Früherkennung ein Segen? Welchen Vorteil hat die Späterkennung? Muss bis ins hohe Alter um jeden Preis jedes Gebrechen operiert und repariert werden? Das Bedürfnis bleibt hingegen von der Geburt bis zum Tod individuell und lässt sich mit medizinischer Intervention kaum steuern. "Heilen helfen kann nur das Leben selbst und der Patient. Wenn er, ob bewusst oder unbewusst, nicht mitarbeitet, ist keine Heilung möglich." Im Übrigen auch dann nicht, wenn er dem Arzt nicht vertraue. Auch Mediziner müssen sich unabhängig von fachlicher Qualifikation Glaubwürdigkeit und Vertrauen ihrer Patienten verdienen.

Was hilft also heilen?

Das Leben selbst – eine so schlichte wie vielschichtige Antwort. "Die Akzeptanz von Unsicherheit, des Fremden, der Fragilität und Verletzbarkeit des Lebens", nennt Annelie Keil, aber auch den Lebenswillen als Lust am Leben und Akzeptanz der Sterblichkeit. "Das Heilungsgeschehen ist die Zwischenstation zwischen Diagnose und Behandlung", stellt sie fest, der Arzt sei zu jedem Zeitpunkt der Dienstleister des Patienten. Wie selbstverständlich, und wie fern mitunter den Gedanken, wenn es um die beste Therapie geht. Das Beste ist nicht für jeden Patienten die Maximaltherapie. Patienten- statt Organorientierung müsse stets im Vordergrund stehen. Dabei sei "Professionalisierung Chance und Hindernis zugleich. Sie kann auch von Lebenserfahrung wegführen", warnt Keil und plädiert dafür, Intuition nicht außer acht zu lassen.

Nachfragen lohnt sich

So gerüstet gelte es mit dem Patienten zu klären, was das Minimalziel und was das erträumte Ende des Heilungsprozesses sei. Diese Fragen zu stellen ist der Einstieg in einen Dialog mit dem Erkrankten, der für die Heilung unerlässlich ist – wie auch immer die Heilung am Ende des Tages aussieht. Das können vom Schnupfenpatienten über den chronisch kranken Menschen mit Diabetes bis hin zu Krebskranken entscheidende Fragen sein, vergegen- wärtigen sie doch, dass ein Fortschritt nur möglich ist, wenn der Patient sich – mit Hilfe seines Arztes – bewusst macht, wo er steht und was für ihn Leben und lebenswert ist. "Sie dürfen dem Patienten keine Aufgaben stellen, die er nicht bewältigen kann", mahnte die Gesundheitswissenschaftlerin einerseits an, stellte aber auch fest: "Ärzte erfahren oft zu wenig darüber, was dem Patienten wirklich gut getan hat." Nachfragen lohnt sich.

"Viele Menschen hadern auf das Schwerste mit ihrer Diagnose", sagt sie und Kummer, Wut und Resignation seien durchaus legitim. Sie kosten aber auch Kraft, die für die Heilung verloren ist. Den Spagat zu schaffen zwischen dem, was erlitten werden muss, weil es nicht zu ändern ist, und dem, was in der Krankheit selbstbewusst entschieden werden könne, sei deshalb eine zentrale Herausforderung im Heilungsgeschehen. Nicht auf Gesundheit kommt es an, sondern auf das Leben. Es gehe darum eine "Lust auf Leben, Lust auf Gesundheit" zu erzeugen, weniger mit dem erhobenen Zeigefinger zu argumentieren als vielmehr den Patienten zu ermutigen in seinem Jammer nicht zu verharren. Bei Patienten mit Demenz sei es noch wichtiger, sich in deren Innenwelt hineinzudenken, Verborgenes wahrzunehmen, sonst werde der demente Patient nicht als Mensch mit Persönlichkeit behandelt.

Immenser Druck, fit zu bleiben

Scharfe Kritik übt Keil am Gesundheitswahn der Gesellschaft. Aufgabe der Medizin sei Normalität wiederherzustellen, aber was ist das? Gesundheit sei kein objektiv messbarer Zustand. "Doch wenn es um die Gesundheit geht, hört jeder Spaß auf." Die Propagierung der Gesundheit als oberstes Gut habe aber fatale Auswirkungen auf die Gesellschaft und deren Akzeptanz von Krankheit. Der Druck auf Ältere gesund und fit zu bleiben, sei immens geworden.

"Was ist der demente, der behinderte, unheilbar kranke, der sterbende Mensch, wenn der Gesunde oberste Priorität hat?", fragt Annelie Keil und erinnert an die im vergangenen Jahr im Bundestag und bundesweit geführte Debatte zur Sterbehilfe und Sterbegeleitung, in der es auch um die Frage des würdigen Abschiednehmens ging. "Auch im Sterben geht es um Heilung", sagt Annelie Keil, die in der Hospizbewegung aktiv ist und Mitbegründerin des Weiterbildungsstudiengangs Palliative Care in Bremen, der zur professionellen Betreuung und Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen qualifiziert.

"Eine stabile körperliche und geistige Gesundheit ist das Phantom, dem wir nachjagen", meint die 77-Jährige, die sagt, nicht mit einer "Rolle vorwärts" in den Sarg springen zu wollen. Sie wolle stattdessen lebenssatt sterben und von starken Männern zu Grabe getragen werden. "Aber das wird nicht funktionieren, weil die alle Rücken haben."

Der Arzt als Dienstleister des Patienten

  • Die Maximaltherapie ist nicht fur jeden Patienten das Beste.

  • Patienten- statt Organorientierung!

  • Professionalisierung ist Chance und Hindernis zugleich.

  • Intuition nicht auser Acht lassen!

Lesen Sie dazu auch den ersten Serienteil: [Der Hausarzt als Glücksbringer](/hausarzt(2016/13/75.php)

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